Gewaltfreier, ziviler Widerstand: Mahatma Gandhi mit Anhängern seiner Bewegung 1930 bei einem Sitzstreik.
Gewaltfreier, ziviler Widerstand: Mahatma Gandhi mit Anhängern seiner Bewegung 1930 bei einem Sitzstreik. UIG/imago

Manche sogenannte Whataboutismen führen Debatten nicht ins Abseits, sondern auf das richtige Gleis. Was haben Mahatma Gandhi und die Klima-Kleber gemeinsam? Vielleicht rollen Sie beim Lesen dieser Zeilen mit den Augen. Doch die Parallele ist trotz aller Unterschiede offenkundig: Die Letzte Generation beruft sich ausdrücklich auf den Begriff „friedlicher, ziviler Widerstand“. Die Klimaaktivisten begründen Gesetzesüberschreitungen mit einem höheren Ziel, nämlich dem Kampf gegen die Klimaerwärmung. Dafür nehmen sie erhebliche Gefahren in erster Linie für ihr eigenes Wohlergehen in Kauf, im Einzelfall auch, dass beispielsweise Autofahrer unpünktlich zur Arbeit kommen oder sogar Rettungseinsätze behindert werden.

Gandhis ziviler, gewaltfreier Ungehorsam grenzte sich deutlich von passivem Widerstand ab

Das kommt uns radikal vor, aber hätten wir dasselbe auch über den indischen Anwalt und Pazifisten gesagt, der mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen die britische Besatzung seines Landes kämpfte? Gandhi war einer der wichtigsten Ideengeber von gewaltfreien Aktionen, die sich deutlich vom Begriff des „passiven Widerstands“ abgrenzten. Denn passiver Widerstand kann aus der Not geboren sein, dass die Mittel fehlen, um Unterdrückern entgegenzutreten, also Waffen, Fertigkeiten und der Wille, Gewalt einzusetzen. Er kann Sabotage, Sachbeschädigung und dergleichen einschließen. Ausdrücklich gewaltfrei ist er nicht.

Gandhis Idee der Satyagraha, das Bekenntnis zum Gewaltverzicht und zum beharrlichen Festhalten an der Wahrheit, hat dem Mann jahrelange Gefängnisstrafen eingebracht, aber auch Macht. Gandhi wurde Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, der wiederum die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung zugrunde liegt.

Diese Vorstellungen Gandhis von der Wahrheit würden viele von uns noch heute teilen. Doch aus Sicht der britischen Besatzer waren die Widerstandsaktionen des Freiheitskämpfers, der bewusst gegen eine Reihe von ihm als ungerecht und falsch aufgefasster Gesetze verstieß, illegal, Grund, ihn einzusperren.

Letzte Generation setzt sich mit umstrittenen Aktionen dem Verdacht aus, eine kriminelle Vereinigung zu sein

Man kann einwenden, dass umstrittene Aktionen der Letzten Generation wie die versuchte Sabotage der Ölraffinerie in Schwedt ganz und gar nicht gewaltfrei waren. Unter anderem wegen dieser Aktion im vergangenen Jahr ermittelt die Staatsanwaltschaft in Potsdam gegen mehrere Klimaschützer, verdächtigt sie, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. 

Andere Staatsanwaltschaften gehen demselben Verdacht nach, allerdings mit Bezug auf zunächst gewaltfreie Straßenblockaden, die jedoch juristisch als Nötigung aufgefasst werden könnten. Das Problem mit dieser Argumentation: So gut wie jeder ziviler Ungehorsam könnte als Nötigung aufgefasst werden, beispielsweise die eher symbolische Behinderung von Castor-Transporten ins Zwischenlager Gorleben, der Widerstand gegen Abholzung von Wäldern und dergleichen. Sinnvollerweise hat man sich darauf verständigt, dass die Eskalation solcher Konflikte mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und juristischen Drohungen nicht zielführend ist. Vielmehr haben Einsatzkräfte und Politiker gelernt, Widerstand gewaltfrei oder durch den maßvollen Einsatz polizeilicher Gewalt aufzulösen. 

Gewaltfreier Widerstand: Was wäre, wenn Rechtsextreme Klima-Kleber kopieren?

Genauso passiert es fast tagtäglich auf den Straßen Berlins: Klimaaktivisten kleben sich an, Polizeikräfte lösen sie mithilfe von Speiseöl ab, tragen sie von der Fahrbahn. Das nervt sowohl die Beamten im Einsatz als auch wartende Autofahrer, aber es folgt dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Die Frage ist, ob man Klimaaktivisten damit durchkommen lassen will, sich auf ein Widerstandsrecht für eine höhere Wahrheit, also den Kampf gegen den Klimawandel, zu berufen.

Was aus ihrer Sicht zweifellos legitim ist, könnten andere kopieren, mit denselben Mitteln für zweifelhafte Ziele kämpfen. Dieses Fass hat der brandenburgische CDU-Chef Jan Redmann jüngst im rbb mit einem etwas bösartigen Vergleich aufgemacht: Was wäre eigentlich los, wenn sich Rechtsextreme in Frankfurt auf die Fahrbahn kleben würden, um für undemokratische Ziele zu demonstrieren? Ziele, die ja aus deren Sicht die Wahrheit sind!

Klima-Kleber-Debatte: Es steht mehr auf dem Spiel als die Nerven ausgebremster Berliner Autofahrer

Wie realistisch oder abseitig der Einwand klingen mag, man sollte ihn mitdenken. Weiter helfen da nur Recht und Gesetz: Für undemokratische Ziele mit illegalen Mitteln zu kämpfen, kann der Staat nicht hinnehmen. Redmanns Vergleich ist somit unsauber: Der Kampf gegen den Klimawandel wurde vom Gesetzgeber dagegen mehrfach als Priorität vorgegeben, der Staat verpflichtet, Klimaschutzgesetze nachzuschärfen.

Insofern geht es bei der Letzten Generation um die Wahl der Mittel: Es gibt Gründe dafür, warum sich Staatsanwaltschaften uneins sind, wie die Aktionen der Klimaaktivisten zu bewerten sind. Noch lehnt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft ab, die Letzte Generation pauschal als kriminelle Vereinigung zu verfolgen. Doch der politische Druck wächst, sich der Auffassung etwa der Potsdamer oder Münchner Staatsanwaltschaft anzuschließen.

Da wiederum sollten die Alarmglocken schrillen: Denn die Justiz muss unabhängig von den jeweils regierenden Parteien bewerten können, wo die Grenzen liegen zwischen umstrittenen Aktionen, die man dennoch als gerade noch legitim auffassen kann – und eindeutig kriminellen Machenschaften. Wenn Justiz der verlängerte Arm der Politik wird, steht deutlich mehr auf dem Spiel als die strapazierten Nerven ausgebremster Autofahrer.