Flüchtlingskatastrophe vor Griechenland

UPDATE: Polizei nimmt neun Schleuser fest. Sind weit über 500 Menschen ertrunken?

Beim Untergang eines mit Flüchtlingen überfüllten Bootes im Mittelmeer könnten über 500 Menschen ertrunken sein. Nur 104  Migranten wurden gerettet, neun wurden festgenommen

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Am Dienstag machte die griechische Küstenwache dieses Luftbild des überfüllten Seelenverkäufers. Am frühen Mittwochmorgen ging er unter. Möglicherweise ertranken über 500 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die unter Deck eingepfercht waren.
Am Dienstag machte die griechische Küstenwache dieses Luftbild des überfüllten Seelenverkäufers. Am frühen Mittwochmorgen ging er unter. Möglicherweise ertranken über 500 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die unter Deck eingepfercht waren.Hellenic Coast Guard/AP

Es ist das nackte Grauen: Beim Untergang eines rostigen Flüchtlingsschiffs in internationalen Gewässern des Mittelmeers könnten bis zu 600 Menschen ertrunken sein.

Gerettet werden konnten seit dem Unglück am frühen Mittwochmorgen 104 Menschen. 26 von ihnen wurden vorwiegend mit Unterkühlungen ins Krankenhaus gebracht, vier Kliniken hatten die Griechen für einen Massenanfall von Verletzten vorgesehen.

79 Leichen wurden am Ort des Untergangs etwa 90 Kilometer südwestlich der griechischen Halbinsel Peloponnes geborgen. Bei der auch in der Nacht zu Donnerstag fortgesetzten Suchaktion mit Flugzeugen, Hubschraubern und Schiffen kamen weder Lebende noch Tote dazu.

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Ein Foto des heillos mit Migranten überfüllten Fischerbootes bestätigte jedoch Vermutungen, dass es sich um 500 bis 700 Passagiere gehandelt haben könnte, was bei 104 Geretteten 400 bis 600 Tote bedeuten würde.  

Das am Dienstag von der griechischen Küstenwache aus der Luft aufgenommene Bild zeigt, dass sich allein schon an Deck des verrosteten Seelenverkäufers bis zu 200 Menschen drängten. Auszumachen sind ein weiteres Zwischendeck und der Rumpf. Laut Medienberichten handelte es sich bei den geretteten Menschen ausschließlich um Männer.

Sanitäter transportieren einen Überlebenden des Bootsunglücks zu einem Krankenwagen im Hafen der griechischen Stadt Kalamata. Wegen Unterkühlung ist er mit einer Rettungsdecke umhüllt.
Sanitäter transportieren einen Überlebenden des Bootsunglücks zu einem Krankenwagen im Hafen der griechischen Stadt Kalamata. Wegen Unterkühlung ist er mit einer Rettungsdecke umhüllt.Thanassis Stavrakis/AP

Frauen und Kinder hatten keine Chance

Die übrigen Passagiere, darunter nach Angaben der Überlebenden schwangere Frauen und rund hundert Kinder, sollen sich unter Deck aufgehalten und beim schnellen Sinken des Bootes keine Chance gehabt haben, sich nach draußen zu retten.

„An Deck des Schiffes waren die Menschen zusammengepfercht, das Gleiche vermuten wir auch für den Innenraum“, sagte ein Sprecher der Küstenwache dem Staatssender ERT. Die griechische Staatspräsidentin Ekaterini Sakellaropoulou, die in die Hafenstadt Kalamata zu den Rettungsarbeiten gereist war, sagte: „Wir werden wohl nie erfahren, wie viele Menschen wirklich an Bord waren.“

Bei dem Unglücksboot handelte es sich um ein bis zu 30 Meter langes stählernes Fischerboot. Nach Angaben der Geretteten war es von der libyschen Stadt Tobruk aus in See gestochen. Unter den Passagieren seien Menschen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan und Ägypten gewesen.

Gerettete wurden zunächst behelfsmäßig in einer Lagerhalle der Hafenstadt Kalamata untergebracht.
Gerettete wurden zunächst behelfsmäßig in einer Lagerhalle der Hafenstadt Kalamata untergebracht.Thanassis Stavrakis/AP

Am Tag nach dem schweren Bootsunglück im Mittelmeer hat die griechische Küstenwache neun der Überlebenden festgenommen. Sie sollen als Schleuser agiert haben. Wie der staatliche Rundfunk (ERT) am Donnerstagabend berichtete, wird den aus Ägypten stammenden Männern die Bildung einer kriminellen Organisation vorgeworfen. Sie sollen dem Staatsanwalt der Hafenstadt Kalamata vorgeführt werden. Dieser werde entscheiden, wie es weitergehe, hieß es.

Schiffsbesatzung hatte Hilfe abgelehnt, erklärte die griechische Küstenwache

Schon am Dienstag hatten italienische Behörden die griechischen Nachbarn über ein voll besetztes Fischerboot im griechischen Such- und Rettungsbereich informiert. Die Behörden und vorbeifahrende Frachter hätten der Besatzung per Funk wiederholt Hilfe angeboten, sagte ein Sprecher der griechischen Küstenwache.

Diese jedoch hätten abgelehnt und angegeben, nach Italien weiterreisen zu wollen. Lediglich Lebensmittel wurden von einem Schiff entgegengenommen, gab die Küstenwache bekannt. Unter den Geretteten wurden später drei mutmaßliche Schlepper festgenommen.

Als Ursache des Unglücks vermutet die Küstenwache eine Panik an Bord. Man habe das Boot nach der Kontaktaufnahme weiterhin beobachtet und plötzlich abrupte Bewegungen wahrgenommen, sagte der Sprecher. Dann sei der Kutter gekentert und schnell gesunken. Am Wetter habe es nicht gelegen. Das sei verhältnismäßig ruhig gewesen. Spekuliert wird über einen Ausfall der Maschine, was zu der Panik geführt haben könnte.

Die Unglücksstelle liegt nahe der tiefsten Stelle im Mittelmeer, dem fünf Kilometer tiefen Calypsotief. Eine Bergung des Wracks dürfte damit so gut wie ausgeschlossen sein.

In  Kalamata, in dessen Hafen die Überlebenden gebracht worden waren, spielten sich unterdessen am Donnerstag trostlose Szenen ab. Viele der Überlebenden suchten dort nach Angehörigen. Verzweifelt hielten sie den Hilfskräften Handyfotos der Betreffenden vor, meist ohne Erfolg.

Die geborgenen Leichname werden jetzt nach Athen gebracht. Dort sollen DNS-Proben genommen werden, um die Menschen zu identifizieren.

In eine Decke gehüllt, verlässt ein Flüchtling die Jacht Mayan Queen. Das Luxusschiff eines mexikanischen  Milliardärs hatte viele Schiffbrüchige geborgen.
In eine Decke gehüllt, verlässt ein Flüchtling die Jacht Mayan Queen. Das Luxusschiff eines mexikanischen Milliardärs hatte viele Schiffbrüchige geborgen.www.argolikeseidhseis.gr/AP

Vereinte Nationen fordern sichere Fluchtrouten

Nach dem Unglück mahnten die Vereinten Nationen die Sicherheit von Fluchtrouten an. „Dies ist ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten zusammenkommen und geordnete, sichere Wege für Menschen schaffen, die zur Flucht gezwungen sind“, sagte Sprecher Stephane Dujarric am Mittwoch in New York. In diesen Prozess müssten „Herkunftsländer, Transitländer und Bestimmungsländer“ eingebunden sein.

Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) sprach gegenüber dem Sender Welt-TV ebenfalls von der Notwendigkeit legaler Fluchtwege nach Europa. „Wenn man sich auf so eine Reise begibt über das Meer, unter solchen Bedingungen, dann muss man schon sehr verzweifelt sein.“ Deshalb sei es wichtig, legale Zuwanderung zu ermöglichen „für diejenigen, die zum Beispiel bei uns arbeiten wollen“.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen twitterte, sie sei zutiefst betrübt über die vielen Toten und sehr besorgt angesichts der Zahl der vermissten Menschen. „Wir müssen weiterhin mit den Mitgliedstaaten und Drittländern zusammenarbeiten, um solche Tragödien zu verhindern.“

Abschreckung durch Asylverfahren an den EU-Außengrenzen?

Erst vergangene Woche hatten sich die Innenminister der EU-Staaten nach langen Verhandlungen darauf verständigt, dass die Asylverfahren in der EU wegen der Probleme mit illegaler Migration deutlich verschärft werden sollten. Unter anderem ist nun ein härterer Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive vorgesehen. Auch sollen Asylverfahren in Zukunft an den Außengrenzen der EU – also unter anderem in Griechenland – abgewickelt werden. Die Einigung muss noch vom EU-Parlament bestätigt werden.

Griechenland hat die Kontrollen seiner Gewässer in den vergangenen Jahren bereits massiv verschärft, um illegale Migration abzuwehren. Deshalb wählen Schleuser und Migranten zunehmend gefährliche, lange Routen von der Türkei und Staaten des Nahen Ostens südlich an Griechenland vorbei direkt nach Italien, um in die EU zu gelangen.

Seit 2014 sind nach UN-Angaben mehr als 20.000 Migranten auf dem Mittelmeer gestorben. Bei der wohl bisher schlimmsten Katastrophe auf dem Mittelmeer verloren im April 2015 mehr als 1000 Menschen vor der libyschen Küste ihr Leben.