Doctor Marion Muchembled und eine Kollegin sehen sich in Amiens Ergebnisse einer Untersuchung eines Corona-Patienten im Computer an. Die Mienen verheißen keine guten Nachrichten. 
Doctor Marion Muchembled und eine Kollegin sehen sich in Amiens Ergebnisse einer Untersuchung eines Corona-Patienten im Computer an. Die Mienen verheißen keine guten Nachrichten.  Foto: AP/Francois Mori

Stephanie Sannier verarbeitet ihren Stress und ihre Sorgen, indem sie nach ihrer Zwölf-Stunden-Schicht ins Auto steigt, die Musik aufdreht und so laut mitsingt, wie sie nur kann. „Es ermöglicht mir zu atmen und zu weinen“, sagt die Intensivkrankenschwester aus der Stadt Amiens in Nordfrankreich. Ihr Land kämpft gerade gegen eine neue Coronavirus-Welle, die aus Sicht vieler vermeidbar gewesen wäre. Für Deutschland ist es die Lehre, dass ein so zentralistisch geführter Staat wie Frankreich mitnichten besser durch die Krise kommt wie Deutschland mit seinem immer wieder kritisierten Föderalismus.

Auf der Intensivstation, auf der Sannier arbeitet, sind alle Betten mit Covid-19-Patienten belegt. Drei sind in den vergangenen drei Tagen gestorben. Das große Krankenhaus weist aus Platzmangel schwerkranke Patienten aus kleineren Orten in der Umgebung ab. „Wir merken, dass diese Welle sehr stark anrollt“, sagt der Beatmungsspezialist Romain Beal vom Krankenhaus CHU-Amiens-Picardie. „Wir hatten Familien, in denen die Mutter und der Sohn gleichzeitig in zwei verschiedenen Zimmern der Intensivstation hier gestorben sind. Es ist unerträglich.“

Erschöpft lehnt eine Krankenschwester in der großen Klinik von Amiens am Türrahmen. 
Erschöpft lehnt eine Krankenschwester in der großen Klinik von Amiens am Türrahmen.  Foto: AP/Francois Mori

Am vergangenen Mittwoch hatte Macron Schulschließungen landesweit von Dienstag an und neue Reisebeschränkungen angeordnet. Auf Forderungen nach einem strikten Lockdown – der ohnehin jetzt schon heftig ist – ging er allerdings nicht ein. Er hielt stattdessen an seiner Strategie eines „dritten Wegs“ zwischen Lockerungen und Beschränkungen fest. Damit will er sowohl die Infektionen als auch die ungeduldige Bevölkerung in Schach halten, bis Massenimpfungen greifen.

Die Regierung und Macron („Es wird kein Schuldeingeständnis von mir geben. Ich bedaure nichts und werde keinen Fehler zugeben.“) sind weit entfernt von Selbstkritik. Für den Anstieg der Infektionszahlen und die Überfüllung der Krankenhäuser macht sie Lieferverzögerungen bei Impfstoffen und Verstöße der Menschen gegen Schutzmaßnahmen verantwortlich. Macrons Kritiker werfen ihm dagegen Überheblichkeit vor. Die Regierung habe Warnzeichen ignoriert,  politischen und wirtschaftlichen Erwägungen der Rettung von Menschenleben vorgezogen.

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Ärzte hatten mit Sorge verfolgt, wie sich die britische Virusmutante in Frankreich ausbreitete, immer jüngere Patienten in die Intensivstationen trieb.  

Kampf um jedes Leben: Eine Krankenschwester überprüft den Sitz der Beatmungsschläuche eines Covid-19-Patienten. 
Kampf um jedes Leben: Eine Krankenschwester überprüft den Sitz der Beatmungsschläuche eines Covid-19-Patienten.  Foto: AP/Francois Mori

Als in Großbritannien im Januar die Zahl der Toten stieg und sich Mutanten in Ländern von Tschechien bis Portugal ausbreiteten, rühmte sich Frankreich weiter seines „dritten Wegs“, obwohl selbst wissenschaftliche Berater der Regierung vor drohendem Anstieg der Krankenhauseinweisungen im März oder April warnten.

Ärzte forderten Präventionsmaßnahmen über die bestehenden, regional unterschiedlichen hinaus – eine landesweite Ausgangssperre ab 18 Uhr sowie die Schließung aller Restaurants und vieler Geschäfte. Bislang darf man zwischen 19 und 6 Uhr nur mit Passierschein aus seiner Wohnung, wer ohne erwischt wird, zahlt 135 Euro. Beim dritten Mal innerhalb von 30 Tagen 3750 Euro ...

Doch die Regierung weigerte sich, einen neuen Lockdown zu verhängen. Minister betonten, wie wichtig es sei, die Wirtschaft über Wasser zu halten und die seelische Gesundheit der zermürbten Bevölkerung zu schützen. Eine erleichterte Öffentlichkeit dankte Macron seinen Kurs zunächst mit gestiegenen Umfragewerten.

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Doch in den vergangenen drei Wochen verdoppelte sich die landesweite Infektionsrate, und Meinungsforscher sehen wachsenden Frust. 2021 sind in Frankreich schon 30.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Die Gesamtzahl der Toten – zuletzt rund 97.000 – gehört zu den höchsten weltweit, die der Infektionen mit nicht mehr viel unter fünf Millionen ist die höchste in Europa.

Als Reaktion verkündete Macron die dreiwöchige Schließung aller Schulen in Frankreich, ein einmonatiges Verbot von Inlandsreisen und die Bereitstellung Tausender zusätzlicher Intensivbetten. Er versprach eine Verstärkung des medizinischen Personals. Mit dem Verzicht auf einen dritten Lockdown „haben wir wertvolle Tage der Freiheit gewonnen und wochenlangen Schulunterricht für unsere Kinder, und wir haben es Hunderttausenden Arbeitern ermöglicht, den Kopf über Wasser zu halten“, sagte der Präsident, der 2022 wiedergewählt werden will.