„Russland ist einmarschiert. Mach dich bereit!“ Wie ein KURIER-Reporter den Kriegsbeginn vor einem Jahr in der Ukraine erlebt hat
Der 24. Februar 2022 hat nicht nur das Leben vieler Ukrainer verändert. Auch unser Autor lebte in der Ukraine und erlebte den Beginn der großflächigen russischen Invasion selbst mit.

Es wird einer der Momente in meinem Leben bleiben, die ich meinen Lebtag nicht vergesse. Ich meine nicht den Morgen des 24. Februar 2022, an dem Russland die Ukraine auch großflächig angegriffen hat. Er ist sowieso ein historisches Ereignis, wie es die westliche Welt seit dem 11. September 2001 nicht erlebt hat.
Wenn ich an den Anfang des Krieges denke, dann erinnere ich mich an den Abend davor, den des 23. Februars. Ich bin noch einmal in Lwiw, dem schönen Lemberg, um meine letzten Dinge abzuholen und mich von Freunden zu verabschieden. Russland hat mich ganz ohne Panzer schon eine Woche zuvor vertrieben. Mein Unternehmen für Stadtführungen, das ich in jahrelanger mühevoller Arbeit seit 2016 aufgebaut habe, ist auf ausländische Touristen spezialisiert.
Die ukrainischen Freunde und die Sorge um den Krieg
Seit dem Herbst 2021 ist das zarte Pflänzchen des Auslandstourismus wieder verkümmert. Gerade erst hatte sich der Tourismus im Sommer 2021 etwas erholt, der durch die Corona-Pandemie zum Erliegen gekommen war. Jetzt will aber niemand in einem Land Urlaub machen, dem ein massiver Krieg vorausgesagt wird – verständlicherweise. Meine finanziellen Reserven sind aufgebraucht. Mir bleibt nichts anderes, als nach Deutschland zurückzukehren. Also bin ich nun in Lwiw, um die letzten Dinge zu holen, die wir nach der Ausreiseaufforderung durch das Auswärtige Amt vom 12. Februar zurückgelassen haben.

An diesem 23. Februar ist Lwiw still, die Altstadt, die sonst vor Touristen brummt, vergleichsweise leer. Ich filme eine Szene mit dem Handy, direkt am Rynok, dem Marktplatz. Einige junge Menschen tanzen scheinbar unbeschwert auf den Bürgersteigen. Straßenmusiker, von denen man in guten Sommern auch mal mehrere Dutzend in der Altstadt sieht, spielen ukrainische Lieder für die wenigen Besucher in der Stadt. Ich besuche eine meiner Stammkneipen. Hier treffen sich die Expats, in Lwiw lebende Ausländer. Die, die noch geblieben sind, sind der Meinung, dass Russland nicht angreifen wird.
Vor allem meine ukrainischen Freunde verstehen die Sorge vor einem Krieg. Meine besten Freunde treffe ich zumindest zu einer Umarmung, einem kurzen, manchmal zweiten Abschied. Die Stimmung ist wehmütig. Keiner weiß, wann wir uns wiedersehen werden.

Auch viele Freunde plagen sich seit Wochen mit der Angst, sorgen sich, was mit ihrem Land passieren könnte. Doch sie sind einiges gewohnt. Die meisten wischen Befürchtungen weg. Selbst Freunde aus Charkiw oder Kiew, denen ich über Facebook mehrfach schreibe, wollen dort bleiben. Auch mein Insistieren nützt nichts. Anders als viele Zeitgenossen rechne ich seit Tagen mit einem Angriff.
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Zwischen Angst und Hoffnung
Kurz vor 23 Uhr gehe ich heim, packe noch die letzten Umzugskisten. Für 10 Uhr morgens habe ich Möbelpacker bestellt, die mir beim Kistentragen helfen sollen. Um 12 Uhr will ich noch mal zu Yura, meinem Frisör, der eigentlich, ganz getreu seinem Namen, Jura studiert hat, aber statt mit Gesetzen doch lieber mit Haaren zu tun hat.
Vor dem Einschlafen schwanke ich zwischen Angst und Hoffnung, wie jeden Tag, seit Monaten. Die Nachrichten sprechen eine bedrohliche Sprache. Doch nach Monaten der Anspannung kann man auch damit irgendwie schlafen. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Es ist der letzte friedliche Abend in der Ukraine für eine lange Zeit.

Als ich gegen 6 Uhr aufwache und mit einem verschlafenen Auge nach der Uhrzeit schauen will, ist der Bildschirm meines Telefons bereits mit Eilmeldungen aller möglichen Medien voll. Russland hat das für viele Undenkbare getan: Es greift die Ukraine auf breiter Front an. Es folgen erste Nachrichten und Videos von Grenzüberquerungen durch russische Panzer, Raketenbeschuss in vielen Orten des Landes, Toten. Ich bin erstaunlich gelassen. Auf der Straße höre ich immer wieder Menschen eilig vorbeirennen. Ich gehe ins Nebenzimmer und wecke einen Freund, der mitgekommen ist, um mir beim Umzug zu helfen. „Russland ist einmarschiert. Mach dich bereit“, sage ich ihm nur. Er wacht mit diesem Satz auf und weiß erst nicht, ob es ein Albtraum oder die Realität ist, bis er merkt, dass ich tatsächlich vor ihm stehe und er wirklich gerade in der Ukraine ist.
Ich will zumindest kurz duschen. Als ich mich gerade einseife, höre ich einen dröhnenden Ton, der durch den Ventilationsschacht in das innen liegende Bad dringt. Es ist eine Sirene. In der Ukraine habe ich sie bisher nur selten gehört. In meinem Heimatdorf im Osten Deutschlands wurde sie immer mittwochs um 17 Uhr getestet. Doch hier und heute verkündet sie den Luftschutzalarm.
Raketentreffern in Lwiw und heulende Sirenen
Ich weiß nicht, ob es die Dusche ist, die mich vollends erwachen lässt, oder die Sirene, aber plötzlich macht sich bei mir eine Angst breit, die ich so noch nie gespürt habe. Doch anstatt in Panik zu verfallen, werde ich erstaunlich klar. Die Abwägung im Kopf: Ist es sicherer, im Keller zu warten, bis der Luftalarm vorbei ist? Russische Fallschirmjäger könnten schließlich in der Stadt landen. Oder doch lieber schnell packen und so schnell wie möglich verschwinden?
Ich entscheide mich für Letzteres. Die 18 Umzugskisten, für die ich eigentlich zwei Helfer bestellt habe, tragen wir kurzerhand selbst die Treppen runter. Manche sind bockschwer. Zurücklassen will ich sie nicht, weil darin auch Familienerbstücke sind. Im Nachhinein kommt einem dieser Gedanke fast absurd vor, aber der Mensch hält sich eben doch an Dingen fest. Nach rund 30 Minuten ist der Umzug, für den ich die zwei Helfer bestellt hatte, von uns allein erledigt.
Es bleibt mir nichts, als ein letztes Mal die Wohnung abzuschreiten, zu schauen, ob ich etwas Wichtiges vergessen habe, während draußen weiter die Sirene zu hören ist. In diesem Moment bin ich wehmütig. Wer weiß, ob ich die Wohnung, in der ich glücklich gelebt habe, jeweils wieder betreten werde.

Als wir ins Auto steigen, fährt auch gerade eine Familie mit dem Auto davon. Vater, Mutter und zwei kleine Kinder. Mitgenommen haben sie nur das Nötigste in zwei kleinen Reisetaschen. Sie fahren vermutlich hinaus zu einem Wochenendhaus auf dem Land. Vor den Bankautomaten stehen Hunderte Menschen in Schlangen, um noch Bargeld abzuheben. Vor den Tankstellen haben sich kilometerlange Schlangen gebildet. Mein Tank ist zum Glück voll, so kann ich direkt zur Grenze durchfahren. Dort kommen wir gegen 11 Uhr an.
An der Grenze lesen wir weitere Nachrichten. Es wird von Raketentreffern in Lwiw berichtet. Auch Orte auf dem Weg von Lwiw zur Grenze werden genannt. Insgesamt sieben Stunden warten wir. Die Schlange hinter uns wird immer länger. Wir haben Glück. Wären wir ein paar Stunden später angekommen, hätten wir bis zu zwei Tage warten müssen. Gegen 2 Uhr nachts treffen wir mit dem Auto in Berlin ein. Ich bin völlig übermüdet, aber ich werde wohl nie wieder so froh sein wie an diesem Tag, meine Frau zu umarmen.
Heute jährt sich meine endgültige Flucht aus der Ukraine zum ersten Mal. An keinem Tag seitdem habe ich nicht an die Ukraine gedacht. An die vielen Menschen, die dort sterben müssen, weil wieder einmal ein größenwahnsinniger Diktator ein Land überfallen musste. Unter ihnen ist einer meiner früheren Mitarbeiter. Valentin half seinem Land als Sanitäter an der Front. Im September fiel er bei der Befreiung der Stadt Lyman. Er wurde nur 28 Jahre alt.

In Gedanken immer im Krieg in der Ukraine
Ich muss auch an eine Freundin denken, deren schwer demente Oma im besetzten Cherson zurückgeblieben war. Erst nach der Befreiung durch die ukrainische Armee konnte sie zu ihr. Ich muss an meinen Schwiegervater denken, der mitten im Krieg an Krebs starb und dessen Therapie durch die ständigen Bombardierungen noch schwieriger wurde. Wegen der Ausgangssperre konnten wir nicht einmal die übliche Totenwache halten. Ich muss an das kleine Mädchen mit Downsyndrom denken, das bei dem Raketenangriff in Winnyzja starb. Ich muss an andere Freunde denken, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens sogar zurückgelassene Haustiere aus den von Russland bombardierten Gebieten holen, damit diese ein neues Zuhause finden. Ich denke an meinen guten Freund, der gerade in den Schützengräben von Bachmut dient.
Doch neben all der Trauer, der Wut und der Fassungslosigkeit gibt es auch Grund zur Hoffnung. Viele Menschen wissen nun endlich, dass es zwischen Deutschland und Russland noch andere Länder gibt und dass deren Bewohner nicht nur Verhandlungsmasse zwischen Großmächten sind. Auch in Deutschland weiß man jetzt viel mehr über ukrainische Kultur, Musik, ist offener für ukrainische Stimmen. Mehr Menschen haben verstanden, dass all die Warnungen der Osteuropäer aus den letzten Jahren keine bloße Panikmache waren. Und nicht zuletzt die große Hilfsbereitschaft so vieler Menschen auch in Deutschland gegenüber den Opfern des Krieges ist überwältigend.

Die wichtigste Hoffnung bleibt aber, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Nur dann steht fest, dass alle Ukrainer endlich wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Und nur dann werde ich vielleicht auch wieder meine 18 Umzugskisten die Treppen in Lwiw hinaufschleppen – ganz ohne Sirene.