Ukrainische Kriegslist?

Russische Front bricht zusammen, Moskauer Politiker fordern Putins Rücktritt

Ukrainische Truppen unterbrechen russische Nachschubwege, in Russland regt sich Widerstand gegen Wladimir Putin

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Während seine Truppen  zurückweichen, beschießt Russland Zivilisten wie hier in Charkiw mit Raketen.
Während seine Truppen zurückweichen, beschießt Russland Zivilisten wie hier in Charkiw mit Raketen.AP/Andrii Marienko

Die ukrainische Armee hat in weniger als einer Woche mehr ihres Staatsgebiets von den Russen zurückerobert als die Russen seit April okkupiert haben. Aus Russland gibt es Hinweise auf Protest gegen Wladimir Putin, Falken fordern einen massiven Einsatz der gesamten russischen Armee.

Es könnte der Erfolg einer Kriegslist gewesen sein: Seit Wochen ist aus Kiew von einer Gegenoffensive im Süden bei der Großstadt Cherson zu hören, wo es Brücken über den Dnipro zerschossen wurden, um russischen Einheiten von Nachschub und Rückzugsmöglichkeiten abzuschneiden.

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Vor einer Woche lagen Isjum und Kupjansk noch weit hinter den russischen Linien, die jetzt durchbrochen sind.
Vor einer Woche lagen Isjum und Kupjansk noch weit hinter den russischen Linien, die jetzt durchbrochen sind.Graifk: dpa. Quellen: ISW, liveuamap, ukr. und russ. Behörden

Warnungen wurden von der russischen Militärführung offenbar ignoriert

Es gibt dort auch Kämpfe, aber nach verschiedenen Berichten hat die russische Führung nicht auf Warnungen reagiert, in denen von ukrainischen Truppen-Massierungen östlich der Großstadt Charkiw die Rede war.

Ukrainische Soldaten haben auf dem Dach eines Hauses in Kupjansk ihre Flagge gehisst und sich auf die russische Fahne gestellt.
Ukrainische Soldaten haben auf dem Dach eines Hauses in Kupjansk ihre Flagge gehisst und sich auf die russische Fahne gestellt.Twitter

Diese Truppen durchbrachen relativ schwache russische Verteidigungsstellungen, der Rückzug der Russen soll teilweise den Charakter einer Flucht bekommen haben, mit Massen  zurückgelassener Panzer, Kanonen und Lastwagen. Ganze Einheiten seien umzingelt.

Am Ende erreichten die Ukrainer mit Isjum und Kupjansk Orte, über die weite Teile der Versorgung der russischen Truppen per Bahn und Straße liefen. Der britische Geheimdienst vermeldete am Sonntag früh, dort werde weiter gekämpft.

Die Front kollabiert, Putin eröffnet ein Riesenrad

Während die Front zusammenbrach, eröffnete Putin anlässlich des 875. Geburtstags Moskaus ein Riesenrad. Ein Politologe äußerte sich dazu auf Telegram: „Er pfeift darauf, dass dort unsere Jungs sterben.“ Ein russischer Söldner teilte mit, es sei verrückt zu verkünden, dass man das 101. ukrainische Kampfflugzeug abgeschossen habe, wo es doch nur 40 bis 50 gegeben hatte.

Auf niedriger Ebene wurde bereits Mitte der Woche Widerstand gegen Putin formuliert: Abgeordnete eine St. Petersburger Bezirksparlaments forderten vom russischen Parlament, der Staatsduma, eine Anklage wegen Hochverrats gegen Putin, dessen Krieg Russen und Russland schade. Mitglieder eines Moskauer Bezirksparlaments forderten den Präsidenten zum Rücktritt auf.

Im Staatsfernsehen werden die Propagandisten hysterisch: Einer erinnerte an Stalin, der im 2. Weltkrieg diejenigen habe erschießen lassen, die in Panik verfallen seien. Nationalistische Blogger fordern einen Einsatz der gesamten Armee.

In Telegram- und Twitterkanälen wird gegen die Moskauer Kriegspropaganda aufgetreten, die die Lage verharmlose. So verkündete der Sprecher des Verteidigungsministeriums, der Rückzug sei lediglich eine Umgruppierung, um Kräfte zur Eroberung des Donezk-Gebiets zu bündeln.

Fotos wie das dieses aufgegebenen russischen Panzers häufen sich in den sozialen Medien.
Fotos wie das dieses aufgegebenen russischen Panzers häufen sich in den sozialen Medien.Twitter

Ukraine will deutsche Leopard 2-Panzer

Die Ukraine drängt unterdessen weiter darauf, Leopard 2-Panzer aus Deutschland zu erhalten. „Wir sehen keine Hindernisse dafür“, sagte Außenminister Dmytro Kuleba nach einem Treffen mit seiner deutschen Kollegin Annalena Baerbock (Grüne) in Kiew. Bis sich Berlin dazu entschließe, solle Deutschland weiter Artilleriemunition liefern. „Das erhöht spürbar unsere Offensivmöglichkeiten und das hilft uns bei der Befreiung neuer Gebiete.“

Baerbock reagierte zurückhaltend auf die Forderung, sie könne nichts über das Kabinett in Berlin hinweg versprechen. „Wir liefern ja seit längerem bereits schwere Waffen. Und wir sehen, dass diese Waffen auch einen Unterschied mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine machen.“  

Seit Monaten stehen sich von der Bundeswehr ausgemusterte, wieder aufbereitete Marder-Schützenpanzer in Deutschland die Laufräder platt.
Seit Monaten stehen sich von der Bundeswehr ausgemusterte, wieder aufbereitete Marder-Schützenpanzer in Deutschland die Laufräder platt.dpa/Julian Stratenschulte

Die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), fordert schnelle weitere Waffenlieferungen. „Deutschland muss umgehend  (...) den Schützenpanzer Marder und den Kampfpanzer Leopard 2 liefern.“ Ähnlich äußerten sich der SPD-Außenpolitiker Michael Roth und die grüne Verteidigungspolitikerin Agnieszka Brugger.  Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter forderte Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (beide SPD) auf, ihren zurückhaltenden Kurs bei der Lieferung von Panzern westlicher Produktion aufzugeben.

Auch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat eine schnelle Prüfung weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert. Es sei „ein riesiger Erfolg, den die Ukrainerinnen und Ukrainer gerade haben. Das hat auch damit zu tun, dass der Westen, dass Deutschland, dass wir wahnsinnig viele Waffen geliefert haben in den letzten Wochen und Monaten. Und das muss weitergehen. Das wird auch weitergehen.“ Er schränkte ein, dass es keine  „Alleingänge“ geben werde.  Man müsse sich eng mit Amerikanern und Franzosen abstimmen. „Kein Land liefert gerade westliche Kampfpanzer“, sagte Klingbeil.

Atomkraftwerk Saporischschja abgeschaltet

Baerbock forderte den vollständigen russischen Abzug vom Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja in der Südukraine, dessen sechster und letzter Reaktor am Sonntag heruntergefahren wurde. Mit der Besetzung des AKW setze Putin die gesamte Region der Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls aus. Die russische Militärverwaltung erklärte, die Kühlung werde mit Dieselaggregaten sichergestellt.