Alltag im Kriegsgebiet

„Ich weiß nicht, was in einem Tag oder einer Stunde passieren wird“ – so sehr leiden Kinder im Bombenhagel des Ukraine-Kriegs

Not, Angst und Kälte – das erleben Kinder an der Front im Ukraine-Krieg.

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Gleb Petrov lebt seit acht Monaten in einem Keller in Bachmut.
Gleb Petrov lebt seit acht Monaten in einem Keller in Bachmut.AFP/Sameer Al-DOUMY

Unerbittlich feuern die russischen Streitkräfte Raketen auf zivile Ziele in der Ukraine ab. So wurden zuletzt in der südukrainischen Stadt Cherson mehr als 30 Angriffe binnen 24 Stunden gemeldet, darunter auch auf die Entbindungsstation eines Krankenhauses. Bombenhagel, kein Strom, kein Wasser, dazu Winterkälte und kaum Essen – am meisten müssen die Kinder im Kriegsalltag leiden. Denn noch immer sind tausende Familien in den umkämpften Städten der Ukraine geblieben. Hier sind ihre Geschichten, wie die von Gleb Petrow aus Bachmut.

Wenn Gleb nicht schläft, kümmert er sich um die älteren Leute im Keller oder um eine kleine schwarze Katze. Manchmal liest er Bücher, die eigentlich für Erwachsene bestimmt sind oder zeichnet. Wenn es Strom gibt, spielt er auf seinem Handy. Gleb Petrow ist 14 Jahre alt und lebt in der umkämpften Stadt Bachmut, im Osten des ukrainischen Donez-Beckens. Hier hat er mit 19 anderen Bewohnern seit acht Monaten Unterschlupf in einem Keller gefunden.

Man hört am Geräusch der Explosionen, aus welcher Richtung gefeuert wird

Besucher begrüßt Gleb mit festem Händedruck und ernster Miene. „Ich denke nicht über die Zukunft nach“, sagt er. „Ich weiß ja noch nicht mal, was in einem Tag oder in einer Stunde passieren wird.“ Von draußen hört man Explosionen und Gleb sagt, dass er gelernt habe zu unterscheiden, in welche Richtung gefeuert wird. Sein größter Traum sei es, „mit einem Freund mal spazieren zu gehen“.

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Bachmut wird seit Monaten von russischen Truppen bombardiert, ohne dass ein Ende in Sicht ist. Hier leben noch Dutzende, möglicherweise Hunderte von Kindern, deren Eltern nicht bereit sind zu fliehen. Die Kinder, die im Ukraine-Krieg an der Front leben, müssen lernen, mit dem Dauerstress umzugehen; Psychologen warnen davor, dass sie langfristig seelische Probleme entwickeln könnten.

Die achtjährige Lisa Schtanko ist eines der wenigen Kinder, die noch in der weitgehend zerstörten Stadt Lyman leben.
Die achtjährige Lisa Schtanko ist eines der wenigen Kinder, die noch in der weitgehend zerstörten Stadt Lyman leben.AFP/Ionut IORDACHESCU

Die Stadt Lyman in der Donez-Region war vier Monate lang von russischen Truppen besetzt, seither sind die meisten Gebäude zerstört, die umgebenden Wälder vermint. Die ukrainische Armee hat die Stadt im Oktober zwar zurück erobert, aber in der Umgebung wird weiter gekämpft.

Weihnachtsfest als Ablenkung vom Kriegsalltag steht bevor

Eines der wenigen Kinder dort ist die achtjährige Lisa Schtanko. Lisa steht am Straßenrand und sieht den ukrainischen Soldaten zu, die vorbeiziehen. Die meisten ihrer Freunde sind schon weg. Strom gibt es kaum noch. Und am Morgen ist eine Granate in der Nähe ihres Hauses eingeschlagen.

„Wegen der Bombardierung geht's mir heute nicht so gut“, sagt sie. „Natürlich hat sie Angst“, sagt ihr Vater Viktor Schtanko, ein 42-jähriger Elektriker. „Es gibt nichts Beängstigenderes, als wenn der Tod um dich herum lauert. Aber wenigstens hat sie mich.“ Neujahr und das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar könnten eine Ablenkung vom Kriegsalltag bedeuten, aber Viktor hat für Lisa nur ein Spielzeug von einer Wohltätigkeitsorganisation ergattert.

Ukrainische Soldaten feuern mit einer  Kanonenhaubitze auf russische Stellungen.
Ukrainische Soldaten feuern mit einer Kanonenhaubitze auf russische Stellungen.dpa/Libkos

Das Leben in Lyman ist so hart geworden, dass die meisten Familien mit Kindern geflüchtet sind, und viele haben „keinen Grund, zurückzukommen“, berichtet Kostja Korowkin, der Vater der sechsjährigen Nastja. Kostja sagt, er könne nirgendwo hingehen, so dass Nastja gezwungen sei, die Tage im Keller zu verbringen. Sie könne höchstens einmal kurz auf die Straße, wo sich sonst nur Straßenhunde herumtreiben.

In Bachmut ist Katherine Soldatowa Mitglied einer Bürgerinitiative, die im Keller einer Schule einen Schutzraum eingerichtet hat. In dem beheizten Raum gibt es einen Weihnachtsbaum und einen Fernseher, „damit sich die Kinder wenigstens ein bisschen sicher fühlen“, sagt sie und fügt hinzu: „Diese Kinder sind schon erwachsen geworden.“

Dabei ist es nicht ungefährlich, den Schutzraum aufzusuchen, vor kurzem kamen zwei Menschen auf dem Weg dorthin um. Aber für Kinder wie den zwölfjährigen Wolodymyr ist Soldatowas Keller eine Oase in einer Kriegswüste geworden. Er sagt, er verlasse den Ort eigentlich nur, um zu Hause etwas zu essen.

Vor dem russisch-orthodoxen Weihnachtsfest seien die Kinder an der Front „nicht in Feierstimmung, sondern kämpfen, um zu überleben und den Alltag im Krieg zu meistern“, sagte der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Save the Children, Florian Westphal. Die Kinder in der Ukraine würden sich vor allem einfach Frieden wünschen.

Gerade zu Weihnachten laste die Situation durch den Krieg schwer auf den Familien. „Viele Väter dienen in der Armee und die Kinder vermissen sie jetzt besonders“, sagte Westphal. Mit Schutz- und Spielräumen wolle Save the Children dafür sorgen, dass „Kinder den Kriegsalltag eine Zeitlang vergessen können“. Dort könnten sie „mit Gleichaltrigen spielen, lernen und lachen“, sagte Westphal. „Das ist für sie momentan mindestens genauso wichtig wie ein Weihnachtsgeschenk.“

Kinder vom Krieg gezeichnet: Achtjährige bekam graue Haare

Mit am Schlimmsten sei das seelische Leid. Trauer und Hoffnungslosigkeit stünden den Kindern ins Gesicht geschrieben. Als Beispiel nannte Westphal ein achtjähriges Mädchen. Sie sei „in ihren jungen Jahren schon so schwer vom Krieg gezeichnet, dass eine breite Strähne ihres Haares ausgeblichen ist. Wenn Bombenalarm ist, zittert sie am ganzen Körper.“ Manche Kinder nähmen die Geräusche von Bomben und Raketen hingegen gar nicht mehr wahr. „Auch das ist erschütternd“, sagte Westphal.

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Die Psychologin Aljona Lukjantschuk versucht dennoch, „ein wenig optimistisch“ zu bleiben und weigert sich zu akzeptieren, dass diese Kinder eine verlorene Generation sein könnten. „Es gibt zwar keinen wirklich sicheren Ort mehr in der Ukraine, aber nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Kinder lebt an der Front“, sagt sie. „Wir müssen sie beobachten, aber ich bin sicher, dass viele das seelisch überstehen werden.“