Analyse: Russischer Luftangriff tötete 600 Zivilisten in Mariupol
Nachrichtenagentur untersuchte die Vorgänge vom 16. März in der bis heute umkämpften ukrainischen Stadt.

Bis zu 600 Menschen sind nach Berechnungen der Nachrichtenagentur AP bei dem russischen Luftangriff auf das Theater in der ukrainischen Stadt Mariupol ums Leben gekommen. Journalisten der AP sprachen mit 23 Überlebenden, Ersthelfern und anderen Personen, die über die Zahl der Schutzsuchenden in dem Theater Bescheid wussten und sichteten Fotos und Videos von vor, während und nach der Attacke. Die Stadtregierung von Mariupol hatte die Zahl der Toten bisher auf 300 geschätzt.

Der russische Angriff am 16. März auf das Theater war – soweit bekannt – die bisher opferreichste Einzelattacke auf Zivilisten im russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Die Augenzeugen, die der AP den Angriff schilderten, widersprachen auch vehement Behauptungen aus Moskau, wonach die Ukrainer das Theater selbst gesprengt hätten oder es als Stützpunkt ukrainischer Truppen gedient habe.
Neben den Fotos und Videos aus dem Theater hatte die AP auch Zugriff auf den Grundriss des Theaters mit seinen verschiedenen Stockwerken. Daraus wurde ein 3-D-Modell des Theaters erstellt, durch das Augenzeugen die Reporter virtuell durchführten. Sie schilderten, wo überall Schutzsuchende ihre Lager aufgeschlagen hatten. 16 direkte Augenzeugen sagten, in allen Zimmern und Gängen sei es so voll gewesen, dass im Durchschnitt eine Person drei Quadratmeter zur Verfügung hatte.

Nach Schätzungen der meisten von ihnen waren zum Zeitpunkt des russischen Angriffs rund 1000 Menschen in dem Theater. Keiner, auch nicht unter den Helfern, die danach Überlebende und Tote aus den Trümmern zogen, sahen mehr als 200 Menschen lebend aus dem Gebäude kommen. Vermutlich waren es sogar weniger. Der Stadtrat von Mariupol schätzte, es habe 130 Überlebende gegeben, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sprach von 150 Überlebenden.
Zwei Experten für Kriegsverbrechen prüften die Recherchen der AP und erklärten, die Rückschlüsse durch die Aussagen der Überlebenden und die vorliegenden Grundrisse auf die Zahl der Toten seien plausibel. Ohne direkten Zugang zum Ort des Angriffs sei wohl kaum eine genauere Schätzung möglich.

Russische Soldaten sollen Leichen beseitigt haben
Ob die tatsächliche Zahl der Toten jemals geklärt werden wird, ist ohnehin fraglich. Einige der Leichen seien von russischen Soldaten weggeschafft worden, sagten Augenzeugen der AP. Andere berichteten, dass von vielen der Toten nichts übrig geblieben sei. Unter anderem seien mindestens 100 Menschen in der Suppenküche außerhalb des Gebäudes direkt von der Rakete getroffen worden. Keiner von ihnen habe überlebt.
Mariupol ist eine inzwischen nahezu vollständig zerstörte Hafenstadt am Asowschen Meer, einem Nebengewässer des Schwarzen Meers. Gegenwärtig versuchen russische Truppen und Verbände der sogenannten Volksrepublik Donezk, die letzten ukrainischen Verteidiger der Stadt im riesigen Stahlwerk zu überwältigen.