Rafael Grossi, IAEA-Generaldirektor, erläuterte in Wien die Lage am AKW Saporischschja.
Rafael Grossi, IAEA-Generaldirektor, erläuterte in Wien die Lage am AKW Saporischschja. AP/Lisa Leutner

Nach langem Streit zwischen Russland und der Ukraine, auf welchen Wegen sie das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja erreichen dürfen, haben sich jetzt Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA, Wien) aufgemacht, um das mehrfach beschossene AKW zu inspizieren. Das schrieb IAEA-Chef Rafael Grossi am Montagmorgen bei Twitter. Das Kraftwerk ist in den vergangenen Wochen immer wieder beschossen worden, Russen und Ukrainer weisen sich gegenseitig die Schuld zu.

„Ich bin stolz darauf, diese Mission zu leiten, die im Laufe dieser Woche im Kernkraftwerk sein wird“, schrieb Grossi und veröffentlichte ein Foto des 14-köpfigen Teams. Der Tag sei gekommen, die Unterstützungs- und Hilfsmission nach Saporischschja sei nun auf dem Weg. „Wir müssen die Sicherheit der größten Nuklearanlage der Ukraine und Europas schützen.“

Chef der internationalen Atomenergiebehörde reist mit in die Ukraine

Eine Reise von IAEA-Experten ist seit Monaten im Gespräch, scheiterte aber bislang unter anderem an fehlenden Sicherheitsgarantien. Vor allem aber an Formalien, die in einem Krieg sehr wichtig werden. So machte UN-Generalsekretär António Guterres  obendrein   öfter deutlich, dass es keine Mission geben werde, die nicht von ukrainischem Gebiet aus starte. Eine andere Route hätte den Vereinten Nationen als Verletzung des ukrainischen Hoheitsgebiets ausgelegt werden können – weil Kiew strikt gegen eine IAEA-Reise war, die nur über russisches oder russisch kontrolliertes Gebiet zum AKW gelangt.

Eine Schuldzuweisung, ob Russen oder Ukrainer die Anlage in den vergangenen Wochen beschossen haben, ist von der UN-Behörde nicht zu erwarten. Es geht nach bisherigen Ankündigungen bei der Mission rein um die Analyse der Schäden und um die Erhöhung der Sicherheit. Dass Grossi, der das Rampenlicht nicht scheut, selbst an der Spitze des insgesamt 14-köpfigen Teams mitreist, ist ungewöhnlich - und ein Signal an alle intern wie extern: Das Ganze ist Chefsache.

Das Kraftwerk liegt nahe Saporischschja im Südosten des Landes. Vor dem Krieg wohnten dort mehr als 700.000 Menschen. Direkt am Atomkraftwerk liegt die Stadt Enerhodar, die vor dem russischen Überfall auf das Nachbarland mehr als 50.000 Einwohner hatte. Dort gab es am Abend neue Angriffe. Videos beider Seiten zeigten, dass in Wohnvierteln zahlreiche Autos brannten.

Ein russischer Soldat auf dem Gelände des AKW Saporischschka.
Ein russischer Soldat auf dem Gelände des AKW Saporischschka. AP

Wenige Stunden zuvor hatten russische Truppen angeblich eine bewaffnete ukrainische Drohne direkt über einem der sechs Reaktoren abgeschossen. Sie sei auf die Sicherheitshülle über einem Reaktor gefallen. Die Sprengstoffladung sei detoniert, ohne Schaden anzurichten. Unterstellt wurde, dass die Drohne ein Lager für abgebrannte Brennstäbe treffen sollte.

Durch den nächtlichen Beschuss auf die Stadt Enerhodar seien neun Menschen verletzt worden, zwei von ihnen schwer, teilte Wladimir Rogow, Mitglied der Besatzungsverwaltung, in der Nacht zu Montag mit. Die Ukraine wolle mit solchen Schritten einen Besuch von IAEA-Experten in dem AKW verhindern.

Bürgermeister wirft Russen nukleare Erpressung vor

Der geflüchtete ukrainische Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, sprach dagegen von einer Provokation der Besatzer: Russische Truppen hätten geschossen. Er warf Moskau „nukleare Erpressung“ vor, weil sich russische Truppen in dem AKW verschanzen.

Seit Wochen geht Angst vor einem nuklearen Unfall durch die Kämpfe am größten Kernkraftwerk Europas um. Vergangene Woche hatten sich zwei Reaktoren notabgeschaltet, weil die Stromversorgung zeitweise ausgefallen war. Die Ukraine befürchtet zusätzlich, dass Russland die Stromlieferungen des AKW komplett auf die Krim umleitet.

Der Besuch der 14 Atomexperten wird zu Munition in der Propagandaschlacht zwischen Russland und Ukraine

Für Moskau ist der Besuch vor allem aus Imagegründen wichtig. Die russische Seite will ihn nutzen, um sich als verantwortungsvoller Nutzer und Betreiber der Nuklearanlage zu präsentieren. Das soll der Besetzung des im Süden der Ukraine gelegenen Atomkraftwerks durch die russischen Truppen Legitimität verschaffen. Es besteht wenig Zweifel, dass im Staatsfernsehen die demnächst zu erwartenden Bilder der internationalen Atomexperten auf dem Gelände des AKW entsprechend ausgeschlachtet werden.

Zugleich geht es Moskau darum, Kiew die Verantwortung für den Beschuss der Anlage anzulasten. Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa sprach in dem Zusammenhang von Atomterrorismus, der von der Ukraine betrieben werde.

Ukraine hofft  auf einen Abzug der russischen  Militärs aus dem AKW

Kiew wiederum nutzt die internationale Aufmerksamkeit rund um das Atomkraftwerk, um mit Nachdruck an den Krieg im Land zu erinnern. Dabei verbindet die Ukraine mit dem Besuch Hoffnungen, eine Entmilitarisierung des Kraftwerks als Vorstufe für die Rückkehr der ukrainischen Oberhoheit zu erreichen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte Kiews Ziel vergangene Woche so: „Man muss auf Russland Druck ausüben, ihnen Ultimaten von der internationalen Gemeinschaft stellen, dass sie abziehen sollen, die Technik, Bomben, Waffen und Leute wegbringen sollen, die nicht genau verstehen, was dort vor sich geht und nichts mit der Atomenergie zu tun haben.“