Der neue Twitter-Boss Elon Musk will „den Vogel befreien“: enthemmte Meinungsfreiheit statt Kampf gegen Hassrede.
Der neue Twitter-Boss Elon Musk will „den Vogel befreien“: enthemmte Meinungsfreiheit statt Kampf gegen Hassrede. AFP

Wo Elon Musk ins Spiel kommt, bleibt kein Stein auf dem anderen. Der Selfmade-Milliardär aus Südafrika muss niemandem mehr beweisen, dass er erfolgreiche, innovative Unternehmen gründen und voranbringen kann. PayPal, Tesla, SpaceX: Diese Firmen haben die Welt revolutioniert und das Leben von Millionen Menschen zum Besseren verändert. Überweisungen an Freunde oder Online-Shops sind dank PayPal weltweit möglich, Tesla hat Elektromobilität wie kein anderer Autokonzern vorangetrieben und SpaceX sogar den Weltraum für private Unternehmen erschlossen.

Welche unternehmerischen Interessen der Visionär Elon Musk beim Kauf des Unternehmens Twitter (weltweit 362 Millionen Nutzer) verfolgt, ist unklar. Denn das im Vergleich zu den mächtigen Konkurrenten Instagram und TikTok (jeweils über eine Milliarde Nutzer) eher überschaubare Netzwerk ist schwer zu vermarkten. Immer wieder muss Twitter trotz wachsender User-Zahlen Verluste verkraften – zuletzt im Geschäftsjahr 2021.

Elon Musk will Großteil der Twitter-Belegschaft feuern und Donald Trump zurückholen

44 Milliarden Dollar ist das Unternehmen Elon Musk dennoch wert, eine Summe, für die selbst der schwerreiche Milliardär erst einmal eine Finanzierung finden musste. Auch Musks andere Unternehmen haben erst jahrelang Verluste angehäuft, bis Gewinne erzielt wurden. Doch im Falle von Twitter ist schwer zu erkennen, wie die Umsätze deutlich erhöht werden könnten.

Musk setzt am anderen Ende an: Er hatte angekündigt, einen Großteil der Belegschaft zu feuern. 7500 Mitarbeitende hat das Unternehmen, drei Viertel davon könnten sich bald einen anderen Job suchen müssen. Den ersten drei davon hat Musk offenbar bereits gekündigt. Noch bemerkenswerter als die Kündigung von Twitter-CEO Parag Agrawal und Finanzchef Ned Segal ist wohl das Aus für die Chefjustiziarin Vijaya Gadde: Sie ist nämlich verantwortlich für für die Nutzungsbedingungen und Sicherheit, also auch für Löschungen von Tweets und User-Sperrungen. Mehrfach hatte sich Musk für ein Mehr an Meinungs- und Redefreiheit im sozialen Netzwerk ausgesprochen. Elon Musk, dessen Faible für Wortspiele berüchtigt ist, tweetete in Anspielung auf das Logo des Unternehmens: „Der Vogel ist befreit“.

Was auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, zeigt sich beim näheren Hinsehen als Spiel mit dem Feuer. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump verbreitete über Twitter täglich Desinformation und Hetze. Zunächst wurden dessen Tweets mit Hinweisen versehen, schließlich wurde Trumps Twitter-Account gesperrt. Musk nannte das „moralisch falsch und einfach nur dumm“, deutete an, diese Entscheidung revidieren zu wollen.

Twitter verstärkt Kampf gegen Hassrede, doch es fehlt das qualifizierte Personal

Musk selbst ist Twitter-Usern als Troll bekannt, der jüngst sogar einen russlandfreundlichen Friedensplan postete, der die Ukraine zur Aufgabe von Gebieten gezwungen hätte. In Deutschland unterliegen Hassrede, Volksverhetzung, Beleidigungen und Drohungen strengen Gesetzen, zu deren Durchsetzung die Netzwerke beitragen müssen. Twitter hatte in dem Zusammenhang jüngst das Verfahren überarbeitet, mit dem Hass-Posts gemeldet und überprüft werden.

Dabei hatte sich herausgestellt, dass inzwischen zwar strafrechtliche Tatbestände genauer erfasst werden können, diese aber eigentlich von Rechtsexperten bewertet werden müssten. Dafür fehlen Twitter aber die Personalressourcen, stattdessen setzt man auf Künstliche Intelligenz und schlecht bezahlte Lohnkräfte. Ausgerechnet dort, wo Twitter mehr investieren müsste, will Musk nun einsparen – eine Katastrophe mit Ansage und Vorsatz.

Rechtsanwälte reiben sich die Hände, weil immer mehr User gegen teils berechtigte Sperrungen vorgehen

In Deutschland wird dies jedoch zu möglicherweise kostspieligen Konflikten führen, denn kommt Twitter den Pflichten des Netzwerkdurchsetzungesetzes gegen Hasskriminalität und Desinformation nicht nach, drohen Sanktionen. Jetzt schon hat es Twitter mit zahlreichen Fällen zu tun, in denen User gegen gesperrte Tweets und Accounts geklagt hatten. Mitunter sind dies Accounts, von denen Hassrede ausgeht, deren Betreiber ihre Entsperrung dennoch als Triumph der Meinungsfreiheit feiern. Twitter gibt in diesen Fällen meistens kleinbei, um Rechtsstreite zu verhindern. Eine Änderung der Nutzungsbedingungen, die Hass und Desinformation mehr Raum geben würde, wäre wiederum ein Anlass für neue Klagen gegen den Konzern.

Musk will Geschichte schreiben und Politik umgestalten, er begibt sich dabei auf vermintes Terrain und könnte die Gefahr potenzieren, die jetzt schon durch gezielte Desinformation und Propaganda vor allem der extremen Rechten. Als erklärter Putin-Versteher spielt der Unternehmer sinnbildlich mit einer Atombombe im Netz. Mit seinen wirren Visionen von entfesselter Meinungsfreiheit könnte Musk die Welt tatsächlich in seinem Sinne revolutionieren, aber es wird eine „Welt des Grauens“ sein, regiert allein von Autokraten wie Putin und Trump  – die „Chief Twit“ Elon Musk allzu gerne hofiert.