Marita und Norbert Blüm vor ziemlich genau einem Jahr an ihrem Haus in Bonn. Damals war er noch nicht gelähmt.
Marita und Norbert Blüm vor ziemlich genau einem Jahr an ihrem Haus in Bonn. Damals war er noch nicht gelähmt. Foto: dpa

Bonn - Das fröhliche Gesicht der deutschen Politik ist Vergangenheit: Norbert Blüm (CDU),  Minister in allen Kabinetten Helmut Kohls, ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Er galt als soziales Gewissen der Bonner Republik – und wird mit einem Spruch unvergessen bleiben: „Die Rente ist sicher.“ 

Das Arbeiterkind aus Rüsselsheim, bis 1957 Werkzeugmacher bei Opel,  holte das Abitur in der Abendschule nach, studierte Philosophie, Geschichte und Theologie. Dann begann eine Karriere im Arbeitnehmer-Flügel der CDU. Sein politischer Ziehvater, der Sozialpolitiker Hans Katzer, machte ihn 1968 zum Hauptgeschäftsführer der CDU-Sozialausschüsse. Von 1977 an führte er für zehn Jahre die Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).

Von 1982 bis 1998 war er Minister für Arbeit und Sozialordnung. Auch, wer ihn nicht mehr als Minister kannte, kennt  „Die Rente ist sicher“ – 1986 hatte Blüm Plakate geklebt: „Denn eins ist sicher: Die Rente.“ Wichtigster Erfolg Blüms war wohl die Einführung der Pflegeversicherung 1995, die er gegen Widerstände durchsetzte.

Als Werkzeugmacher bei Opel war Norbert Blüm wahrscheinlich besser denn als Plakatkleber: 1986 pappte er das Plakat, dessen Aussage untrennbar mit ihm verbunden bleibt, etwas wellig an eine Bonner Litfaß-Säule.
Als Werkzeugmacher bei Opel war Norbert Blüm wahrscheinlich besser denn als Plakatkleber: 1986 pappte er das Plakat, dessen Aussage untrennbar mit ihm verbunden bleibt, etwas wellig an eine Bonner Litfaß-Säule. Foto: dpa

Blüm hatte immer seinen eigenen Kopf, was das Verhältnis zu Kohl nach und nach zerrüttete: 1989 war er am Versuch beteiligt, Kohl als CDU-Vorsitzenden durch Lothar Späth zu ersetzen. Ganz aus war es nach dem Ende der Ära Kohl, als Blüm Kohl wegen dessen Spendenaffäre scharf kritisierte. Seit 2000 bis zum Tode Kohls 2017 sprachen die beiden kein Wort mehr miteinander.

Verlässlich, menschenfreundlich, mutig: Abschiedsworte aus der Politik

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb in seinem Kondolenzbrief an die Witwe Blüms, Marita: „Verlässlichkeit im Handeln und Klarheit im Wort waren immer die Richtschnur Ihres Mannes. Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit und Menschenfreundlichkeit waren für ihn keine bloßen Floskeln.“ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte „große Betroffenheit“ über den Tod Blüms. Er habe ihre Arbeit „tief geprägt“, Werkbank und Ministertisch habe er gleichermaßen gekannt.  Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen: „Er war lebensfroh, menschennah und streitbar, mutig gegenüber den Mächtigen. Sein Auftritt als Minister in Chile, als er gegenüber dem Diktator Pinochet offen Folter kritisierte, bleibt mir unvergessen.“   Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des EU-Parlaments, twitterte: „Damit geht ein Sozialpolitiker mit Herz, Verstand und Mut.“ Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, kein Freund der CDU: „Für mich war er einer der seltenen Vertreter der Gattung weiser alter Mann. Was ihn auszeichnete, war eine humane Radikalität, gepaart mit Witz." Sein viel gescholtener Renten-Satz bewahrheite sich gerade. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte:  „Für mich ist er so etwas wie der Held aus meinen Jugendtagen“, einer derjenigen, „die mich überzeugt haben, der CDU beizutreten.“ Selbst von Bernd Riexinger, Co-Vorsitzender der Linken, kam Lob: „In seiner Zeit als Minister setzte er sich für die Einführung der Pflegeversicherung ein und wehrte sich gegen die Privatisierung der Rente.“ Blüm sei sich treu geblieben, „als er 2016 selbst eine Nacht in einem Zelt im Flüchtlingslager Idomeni verbrachte.“ Als symbolischer Akt in Griechenland, „mit dem er auf die Not der Flüchtenden und die unmenschlichen Folgen auch der deutschen Flüchtlingspolitik aufmerksam machte.“

Zu Fuß in den Bundestag

Blüm, der als guter Kumpel daherkam, blieb bodenständig: In seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter bis 2002 hatte er eine Zweitwohnung in Wedding, ging von dort aus zu Fuß zum Reichstagsgebäude.

Vor allem blieb er kämpferisch. In einem Interview sagte er: „Stellen Sie sich vor, ich hätte keinen Streit mehr. Dann wäre ich schon tot.“ Er liebte klare Positionen. So sagte er in der sogenannten „Flüchtlingskrise“: „Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden Europa wegen moralischer Insolvenz.“

Blüm liebte  Faxen, begoss 1987 den Showmaster Rudi Carrell, der ihn mehrmals veräppelt hatte, offenbar verabredet mit Wasser. Er trat in TV-Shows auf, ging 2007 mit dem Hallenser Theatermann Peter Sodann auf Ost-West-Kabarett-Tournee.  

Als politischer Kaum-Rentner hielt er Vorlesungen, engagierte sich im In- und Ausland in Sozialprojekten, verfasste Bücher mit Titeln wie: „Aufschrei! Wider die erbarmungslose Geldgesellschaft“.

Damit machte sich in der CDU mit linken Positionen zunehmend unbeliebt. Er wurde schon länger als „Herz-Jesu-Marxist“ verhöhnt. Denn Handlungsgrundlage des Katholiken und IG-Metallers war die katholische Soziallehre, die auf Solidarität, Gemeinwohl und – wenn möglich – auf Eigenverantwortung setzt.

Seit Monaten gelähmt

Seit 1964 mit Marita verheiratet, Vater dreier Kinder und Großvater, waren die letzten Monate seines Lebens sehr hart: Nach einer Blutvergiftung fiel er 2019 ins Koma, lag monatelang im Krankenhaus und war dann gelähmt. Im Februar machte er in einem Artikel der „Zeit“, den er im Rollstuhl sitzend seiner Frau diktiert hatte, seinen Zustand öffentlich. Blüm formulierte: „Im Horizont des Rollstuhls fällt der Rückblick anders aus. Was war wichtig, was bedeutungslos?  Die Krankheit zerstört unsere Allmachtsphantasien und dämpft unsere versteckten Überheblichkeiten.“

Seinen Lebensmut büßte Blüm nicht ein, träumte davon, wieder ein Buch halten zu können. Eigentlich genieße er einen privilegierten Status, sagte er: „Ich lebe wie Gott in Frankreich.“ Rund um die Uhr werde er bedient, einmal mehr sei die Familie sein Zufluchtsort. Sterben wollte er wie sein Vater. Dessen letzter Satz hatte gelautet: „Es war alles sehr schön.“  

Die CDA hat ein Online-Kondolenzbuch für Norbert Blüm eingerichtet.