Lohnschere : Tarifflucht: Warum der Osten weniger verdient
In allen Ost-Ländern sind weniger Firmen an Tarifverträge gebunden als im Westen

Berlin/Düsseldorf – Die Ost-West-Schere bei den Einkommen wird seit Jahren beklagt. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat jetzt für Deutschland und jedes Bundesland eine Ursache intensiv untersucht, die sogenannte Tarifflucht. In Betrieben im Osten Deutschlands gilt deutlich seltener als im Westen ein Tarifvertrag, was zu geringeren Löhnen und längeren Arbeitszeiten führt. Christian Hoßbach, DGB-Vorsitzender Berlin-Brandenburg: „Tarifverträge sind der Dreh- und Angelpunkt, um gerade in Ostdeutschland die Einkommen zu verbessern.“
Das Phänomen trifft alle ostdeutschen Länder einschließlich Berlins. Deutschlandweit sinkt der Anteil der Firmen, für die ein Tarifvertrag in Kraft ist. Er liegt nur noch bei 27 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen Jobs sank von 68 Prozent vor 20 Jahren auf 54 Prozent 2018.
Die Forscher der Stiftung haben bei ihrer Untersuchung die Größe der Firmen und ihre Branchen herausgerechnet, um Vergleichbarkeit herzustellen. Denn in größeren Unternehmen und manchen Branchen ist die Tarifbindung höher als in anderen.
Bis zu 18,3 Prozent weniger Lohn
Dennoch liegt in den bereinigten Zahlen in Brandenburg der Lohn in einem Betrieb mit Tarifvertrag um 17,7 Prozent über dem in einem Unternehmen ohne. Das ist der schlechteste Wert nach Sachsen-Anhalt (18,3). In Berlin, wo nur noch weniger als ein Fünftel der Betriebe einem Tarifvertrag unterliegen, sind es 7,1 Prozent.
Dafür muss ein Berliner in einem Unternehmen ohne Vertrag pro Woche eine Dreiviertelstunde länger arbeiten als sein Kollege mit Tarifvertrag, in Brandenburg ist es eine halbe Stunde.
Bundesweit liegt der Lohnunterschied bei 10,9 Prozent, der Unterschied bei der Arbeitszeit mit 53 Minuten bei fast einer Stunde pro Woche.

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Um mehr Firmen in die Tarifbindung zu bringen, müssten mehr Unternehmen in die Arbeitgeberverbände eintreten, die mit den Gewerkschaften Tarifverträge aushandeln, erklärt Sonja Staak, Vize-Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg: „Das hat auch für den Arbeitgeber Vorteile: Fair bezahlte Beschäftigte sind zufriedener und motivierter. Und: Wenn alle Arbeitgeber Tarif zahlen, wird Dumpingkonkurrenz verhindert.“
Sie wirbt um Mitglieder: „Wo Arbeitgeber noch skeptisch sind, sollten Beschäftigte selbstbewusst sein und voran gehen: Indem sie sich in Gewerkschaften organisieren und Tarifverhandlungen einfordern. Hierfür zu kämpfen – wenn es nicht anders geht auch mit Streiks – ist ein Grundrecht.“
Auch die Staatskassen leiden
Tarifflucht sei auch Gift für die Sozialkassen Gift. Allein in Berlin gingen denen jedes Jahr 1,1, in Brandenburg 1,6 Milliarden Euro verloren, weil Unternehmen unterhalb des Tariflohns zahlen. Die Einkommenssteuer-Einnahmen wären in Berlin um 658 Millionen, in Brandenburg eine Milliarde Euro höher, wenn flächendeckend tariflich bezahlt würde.
Obwohl Unternehmer ohne Tarifvertrag billiger und länger arbeiten lassen können, plädieren auch die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) für sie. Andreas Fleischer, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der UVB: „Tarifverträge ermöglichen eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und ihren Beschäftigten. Sie schaffen Rechts- und Planungssicherheit für beide Seiten.“
Forderungen Hoßbachs, die Politik müsse zum Beispiel bei öffentlichen Vergaben vertraglich Tariftreue einfordern, lehnt der UVB aber ab: „Die Tarifpartner genießen aus gutem Grund Tarifautonomie. Es ist daher Sache der Tarifparteien in den jeweiligen Branchen, über attraktive Verträge die Tarifbindung zu erhöhen.“ Politische Einmischung würde die Tarifbindung letztlich schwächen.
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