Die 2S7, russisch Pion, Pfingstrose, ist das weltweit schwerste konventionelle Artilleriegeschütz, kann auch taktische Atomwaffen verschießen.
Die 2S7, russisch Pion, Pfingstrose, ist das weltweit schwerste konventionelle Artilleriegeschütz, kann auch taktische Atomwaffen verschießen. imago

77 Jahre lang wurde weltweit keine Atomwaffe mehr in einer kriegerischen Auseinandersetzung gezündet. Glaubt man den Warnungen des US-Geheimdienstes CIA, dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj und anderen, bereitet Russland möglicherweise gerade im Rahmen der geplanten Großoffensive den Einsatz von taktischen Atomraketen vor. Beobachter stützen sich dabei auf Fotos und Videos, die unter anderem russische 2S7M-Geschütze sowie Tjulpan-Mörser, verziert mit dem russischen Hakenkreuz „Z“.

Diese Waffensysteme sind dazu geeignet, sogenannte taktische Atomwaffen zu verschießen. Über den möglichen Einsatz von taktischen Atomwaffen wird derzeit im russischen Staatsfernsehen fast täglich gesprochen. 70 Prozent von Befragten sollen in Russland den Einsatz solcher Waffen unterstützen. Aber macht Russland tatsächlich ernst damit, oder ist die Drohung mit Atomwaffen nur ein Bluff?

Prinzip der atomaren Abschreckung durch taktische Atomwaffen unterlaufen

Die russische Militärdoktrin sieht eigentlich vor, dass Atomwaffen defensiv, als letzter Schritt zur Landesverteidigung eingesetzt werden sollen. Doch dieses Prinzip der Abschreckung wurde bereits durch die Entwicklung von taktischen Kernwaffen unterlaufen. Solche Waffen wurden übrigens nicht nur von Russland, sondern auch unter anderem von den USA seit den 50er Jahren entwickelt, so die W9, eine Artilleriegranate, das aus Haubitzen abgefeuert wird. Bei Tests in der Wüste von Nevada erreichte die W9 eine Sprengkraft, die mit der Atombombe von Hiroshima vergleichbar ist.

Im Westen war der Einsatz von taktischen Atomwaffen jedoch von Anfang an umstritten, vor allem aus praktischen Gründen: Die Reichweite der eingesetzten Waffensysteme ist mit einigen Dutzend Kilometern sehr gering. Auch wenn die Zerstörungskraft begrenzt ist, wären auch die eigenen Truppen beim Vormarsch extremen Risiken ausgesetzt. Fokus der Abrüstungsgespräche zwischen den USA und der früheren Sowjetunion, so beim 1992 unterzeichneten „Start II“-Abkommen, waren die sogenannten strategischen Langstreckenwaffen mit einer massiven Zerstörungskraft. Kleinere Atomwaffen spielten bei den Gesprächen eine untergeordnete Rolle.

Russland trieb Bau chemischer und atomarer Waffen nach kaltem Krieg weiter voran

„Start II“ wurde teilweise durch Nachfolgeabkommen ersetzt, aus denen jedoch sowohl die USA als auch Russland als Erbe der Sowjetunion schrittweise ausgestiegen waren. Abrüstungsgespräche wurden zunehmend kompliziert und von beiden Seiten unterlaufen. Während die Entwicklung taktischer Atomwaffen nach dem kalten Krieg kaum stattfand, trieb Russland den Bau sowohl chemischer als auch atomarer Waffen mit dem Ziel voran, im Zweifelsfall die Gefechtssituation zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Der mehrfache Einsatz von chemischen Waffen in Syrien – von Russland stets bestritten, von UN-Experten nachgewiesen – drehte die Lage zugunsten des von Russland unterstützten Diktators Baschar al-Assad. Der Vorwurf eines möglichen Einsatzes von chemischen Kampfstoffen im umkämpften Mariupol steht jedenfalls im Raum.

Konventionelle Niederlage könnte für Russland Schwelle für Atomwaffen-Einsatz senken

Westliche Militärbeobachter sehen Anzeichen, dass die russischen Misserfolge der Ukraine-Invasion die Schwelle für den Einsatz der taktischen Atomwaffen senken. Das German Institute for Defence and Strategic Studies der Bundeswehruni Hamburg hält den Einsatz insbesondere für den Fall möglich, „dass eine etwaige konventionelle Niederlage vor Kiew drohen könnte“. Diese Analyse stammt aus dem März, die Niederlage von russischen Truppen vor Kiew wurde bislang allerdings nicht atomar, sondern mit konventionellen Massakern an der Zivilbevölkerung beantwortet.

Ein weiterer Indikator, dass der Einsatz von Atomwaffen nun näher rücken könnte, ist der Faktor Zeit: In knapp drei Wochen feiert Russland den Sieg über das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg traditionell mit einer großen Militärparade. Beobachter erwarten, dass Russland bis dahin irgendeinen vorzeigbaren Erfolg herbeiführen muss, um sich als siegreiche Nation darzustellen. Wie anders als durch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen sollte das angesichts von rund 20.000 gefallenen russischen Soldaten, aufgeriebenen Einheiten und demoralisierten Truppen noch gelingen?