Premierminister Boris Johnson macht aus dem Südosten Englands einen Lkw-Parkplatz.
Premierminister Boris Johnson macht aus dem Südosten Englands einen Lkw-Parkplatz. Foto: Jonathan Brady/PA Wire/dpa

Sevington  - Vier Jahre nach dem Brexit-Votum mag sich der bevorstehende Ausstieg Großbritanniens aus der EU für viele Briten noch unwirklich anfühlen. In der Grafschaft Kent im Südosten Englands jedoch nimmt das politische Großprojekt ganz konkrete Formen an. Planierraupen, Betonmischer und Kipplaster arbeiten sich durch das Gelände, um einen Teil der neuen Grenze zwischen der EU und Großbritannien entstehen zu lassen - eine Zollabfertigung mit Platz für bis zu 2000 Lastwagen. Die Menschen in der Region, von denen viele für den Brexit gestimmt haben, wurden nicht gefragt. Sie sind „not amused“.

„Wir haben das erste Mal etwas mitbekommen, als auf einem Schild die Schließung der Fußwege angekündigt wurde“, sagt Sharon Swandale. Von ihrem Haus im Dorf Mersham konnte sie bis dahin in 20 Minuten nach Sevington laufen, einem Vorort von Ashford mit  seinem dörflichem Charakter. Nun ist der Weg geschlossen und sie muss rund 6,5 Kilometer mit dem Auto fahren.

Keiner dachte an die Brexit-Folgen

In den Orten der Grafschaft hatten 2016 zwischen 40 und 60 Prozent der Wahlberechtigten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union gestimmt. An Lastwagen und eine Zollabfertigung habe damals aber niemand gedacht, erklärt Swandale: „Das war nie Teil des Marketings für den Brexit.“

Sevington und der ebenfalls prosperierende Ort Mersham liegen rund 24 Kilometer vom Eurotunnel nach Frankreich entfernt; bis zum größten Fährhafen Großbritanniens in Dover sind es 32 Kilometer. Auf den beiden Routen verkehren rund vier Millionen Lastwagen pro Jahr, beladen mit Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern.

Solange Großbritannien Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion ist, können diese Güter frei über die Landesgrenzen hinweg gehandelt werden. Nach dem politischen Ausstieg im Januar folgt aber zum Jahresende der wirtschaftliche Bruch, was bedeutet, dass Großbritannien eine Zollgrenze zur EU errichten muss, seinem wichtigsten Handelspartner.

Dann müssen Handelsgüter an der Grenze deklariert und Ladungen kontrolliert werden. Sollten sich die EU und das Vereinigte Königreich bis Jahresende nicht auf ein Freihandelsabkommen einigen, werden Zölle auf viele Güter erhoben. Das bedeutet Störungen im Warenverkehr, mehr Bürokratie und höhere Kosten, und es wird immer wahrscheinlicher, dass es so kommt: Am Donnerstag läuft ein Ultimatum von Premierminister Boris Johnson ab, wenn die Staats- und Regierungschefs der  EU zum Thema Brexit zusammenkommen.

EU-Unterhändler Michel Barnier berichtete beim Treffen der Europaminister in Luxemburg am Dienstag, dass bei allen wichtigen Streitpunkten die Gespräche schwierig. Die EU wappne sich weiter auch für ein Scheitern der Bemühungen um einen Vertrag. Ohne ihn  kommt ein „harter Brexit“. 

Wie dessen Folgen im Detail in Großbritannien bewältigt werden sollen, dazu hat sich die konservative Regierung von  Boris Johnson bisher nur wortkarg geäußert. Im vergangenen Monat erklärte sie immerhin, sollte es zum Schlimmsten kommen, könnten sich in Kent 7000 Lastwagen stauen, was Wartezeiten von bis zu zwei Tagen bedeuten könnte.

Baumaschinen wühlen bei Sevington in Kent die südenglische Landschaft um, damit Lastwagen auf die Zollabfertigung warten können.
Baumaschinen wühlen bei Sevington in Kent die südenglische Landschaft um, damit Lastwagen auf die Zollabfertigung warten können. Foto: Matt Dunham / AP / dpa

Um gegenzusteuern, sollen unter anderem Teile einer Autobahn zeitweise in einen Parkplatz umgewandelt werden. Auf dem Gelände in Sevington sollen dann Zollkontrollen durchgeführt werden, aber auch die Nutzung als Parkplatz sei denkbar, erklärte die Regierung. Die knapp elf Hektar große Fläche ist eine von zehn im ganzen Land, die für eine Zoll-Infrastruktur herangezogen werden könnten. Sicherheitshalber hat sich die Regierung selbst autorisiert, ohne Absprache mit den örtlichen Behörden oder Einwohnern Grundstücke kaufen und bebauen zu können.

Planung ohne Bürgerbeteiligung

Dieses Vorgehen scheint sie zumindest in Sevington durchzuhalten. „Bisher hat kein Einwohner die Pläne gesehen“, erklärt Rick Martin, Vorsitzender des Gemeinderats. Die Menschen befürchteten einen Verkehrskollaps und sinkende Grundstückspreise. „Die Leute können sich nicht vorstellen, wie es aussehen wird, wenn 1000 Lastwagen auf der anderen Seite der Straße parken.“

Sevington und Mersham sind alte Siedlungen, die 1086 erstmals urkundlich erwähnt wurden. Die Einwohner lehnen aber keinesfalls das moderne Leben ab. Sie haben sich abgefunden mit dem ständigen Lärm, der von der Autobahn M20 herüber weht, und dem Rauschen der Züge, die mit 300 Kilometern pro Stunde auf den Eurotunnel zurasen. Vielleicht sind sie deshalb noch entschlossener, den verbliebenen ländlichen Charme ihrer Heimat zu erhalten.

Mit Unterstützung der lokalen Politik wollen sie den Schaden begrenzen und dafür zumindest ein angrenzendes Feld erhalten, das zwar ebenfalls von der Regierung aufgekauft wurde, aber noch nicht zur Bebauung vorgesehen ist. Es ist der letzte grüne Flecken zwischen ihnen und Ashford. „Das wäre der perfekte Ort für einen grünen Puffer zwischen all der Bautätigkeit und dem Dorf“, erläutert Swandale die Pläne der Dorfallianz, deren Mitglied sie ist. Die Feldlerchen sind bereits von dem Gelände verschwunden, Kammmolche und Haselmäuse ließen sich aber noch retten. „Es geht darum, die Kontrolle zurückzubekommen“, sagt Swandale und wiederholt damit einen Slogan der Brexit-Kampagne.

Paul Bartlett, ein konservatives Mitglied im Kreisrat von Kent, räumt ein, dass die Zollabfertigung überraschend gekommen sei. Als erklärter Befürworter des Brexit ist er jedoch entschlossen, das Positive zu sehen. „Wir brauchen Jobs“, erklärt er. Möglicherweise würden 300 neue Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze für die Jungen geschaffen werden. Manchmal müsse man eben eine bittere Pille schlucken.

Um Pillen geht es auch bei Millionen-Aufträgen der britischen Regierung an mehrere Fährunternehmen vergeben, um im Fall eines harten Brexit auf diesem Wege Medikamente und andere wichtige Güter zu importieren. Man habe Verträge  über  knapp 86 Millionen Euro für das erste halbe Jahr nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase unterzeichnet, teilte die Transportbehörde am Dienstag in London mitteilte. Dies solle gewährleisten, dass Güter„ problemlos weiter nach Großbritannien geliefert werden, wie auch immer die Verhandlungen mit der EU ausgehen“.