Studentin im eigenen Land eingesperrt, weil der Vater es so will
Radikalislamische Machthaber der Hamas verweigern junger Frau das Studium im Ausland

Die junge Frau hatte eigentlich einen Weg gefunden. Mit einem Stipendium in der Tasche wollte sie ihre verarmte Heimat verlassen. Afaf al-Nadschar (19) hatte die für ein Studium in der Türkei erforderlichen Reiseunterlagen besorgt – und sogar 430 Euro bezahlt, um am Übergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten die langen Warteschlangen meiden zu können.
Als die junge Frau am 21. September jedoch in der Grenzstadt Rafah ankam, wurde sie dennoch zurückgewiesen. Aufgehalten wurde sie nicht von den Behörden Ägyptens. Ihr Verhängnis war ein Gesetz der radikalislamischen Hamas, das Auslandsreisen von Frauen von der Zustimmung eines männlichen „Vormunds“ abhängig macht.
„Ich bin offen gestanden zusammengebrochen“, sagt Al-Nadschar über den Moment, als die Grenzbeamten ihr Gepäck wieder aus dem Bus herausholten. „Ich hatte Tränen in den Augen. Ich konnte nicht einmal mehr stehen. Sie mussten mir einen Stuhl bringen“, berichtet sie. „Es fühlte sich an, als hätte man mir meinen Traum geraubt.“
Männer entscheiden über die Reisefreiheit für Frauen
Seit 2007, als die Hamas im Gazastreifen die Macht übernahm, können die gut zwei Millionen Bewohner des Gebiets kaum noch ausreisen. Die Hamas hat wiederholt eine Aufhebung der Blockade durch Israel und Ägypten gefordert. Doch nach Vorstellung der Islamisten sollten Lockerungen wohl nicht für alle gelten: Im Februar veröffentlichte ein von der Hamas kontrolliertes Gericht eine Mitteilung, laut der unbegleitete Frauen bei einer Ausreise aus dem Gazastreifen stets eine Erlaubnis eines männlichen „Vormunds“ – also des Ehemannes oder eines sonstigen Verwandten oder gar eines Sohnes – vorzulegen hätten.

Nach Protesten von Menschenrechtsorganisationen entschärften die Hamas-Behörden die neue Regelung. Es ist nun zwar nicht mehr grundsätzlich eine Erlaubnis vorzulegen. Allerdings kann ein männlicher Verwandter jederzeit mit einem Antrag vor Gericht die Ausreise einer Frau verhindern, wenn dadurch ein „absoluter Schaden“ entstünde. Umgekehrt haben Frauen nicht die Möglichkeit, Männern eine Auslandsreise zu verwehren.
Die Hamas hat in den vergangenen Jahren nur sporadisch versucht, in dem ohnehin konservativ geprägten Gazastreifen Scharia-Gesetze einzuführen. Und schon in manchen anderen Fällen sind die Islamisten nach kritischen Reaktionen zurückgerudert. Grundsätzlich ist die Ideologie der Organisation nicht ganz so extremistisch wie etwa die der sunnitischen Terrormiliz IS. Die leicht abgemilderte Version des „Vormund“-Gesetzes blieb aber gültig.
Im Falle der Studentin Al-Nadschar hatte der Vater Widerspruch eingelegt. Ein Gericht ließ die Ausreise verhindern, um den Einwand zu prüfen. Die 19-Jährige lebt bei ihrer Mutter, die von dem Vater getrennt ist. Laut eigenen Angaben hat sie seit Mai keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Für eine Stellungnahme war der Vater nicht zu erreichen. Die Hamas ließ wiederholte Anfragen der Nachrichtenagentur AP zum Thema unbeantwortet.
Human Rights Watch hat die Hamas aufgefordert, die Restriktionen zurückzunehmen. „Die Behörden der Hamas sollten das Reiseverbot für Al-Nadschar aufheben und der Oberste Justizrat sollte die Mitteilung widerrufen, damit Frauen in Gaza ohne diskriminierende Einschränkungen reisen können“, erklärte die in New York ansässige Menschenrechtsorganisation.
Nach ihrer Zurückweisung an der Grenze wandte sich Al-Nadschar zunächst an mehrere örtliche Menschenrechtsgruppen. Diese hätten, aus Angst vor Repressalien von Seiten der Hamas, aber zurückhaltend reagiert, sagt sie. Am Ende habe sie deswegen eine Petition gegen das Reiseverbot eingereicht.
Gerichtsentscheidung dreimal vertagt
Weil der Vater zu der ersten Anhörung nicht erschien, wurde ein neuer Termin angesetzt. Vor der Vertagung fragte ein Richter die 19-Jährige, warum sie denn ins Ausland gehen wolle, anstatt an einer der Universitäten im Gazastreifen zu studieren. Al-Nadschar, die fließend Englisch spricht und Journalistin werden möchte, erklärte, ein Kommunikationsstudium in einem multikulturellen Land wie der Türkei würde ihr Möglichkeiten bieten, die es im abgeriegelten Gazastreifen nicht gebe.
Der zweite Termin kam ebenfalls nicht zustande – diesmal, weil der Anwalt des Vaters krank war. Beim dritten Anlauf am Mittwoch wurde eine erneute Vertagung beschlossen, weil der neue Anwalt des Vaters erklärt hatte, dass er mehr Zeit für die Einarbeitung in den Fall benötige. Die Gültigkeit von Al-Nadschars Stipendium ist bis Ende des Jahres verlängert worden. Wenn sie es aber bis dahin nicht in die Türkei schaffen sollte, wird es voraussichtlich verfallen.
Die Studentin zeigt sich entschlossen, nicht aufzugeben. „Mir ist klar geworden, dass mir niemand helfen wird“, sagt sie. „Mir ist klar geworden, dass ich jetzt stark sein muss, um für meine Rechte zu kämpfen.“ Sie wolle nicht verzagen und nicht bloß im eigenen Zimmer weinen, betont sie. „Ich habe beschlossen, zum ersten Mal in meinem Leben zu kämpfen.“