Justiz in Russland

Straflager, weil er Stalins Morde entlarvte

Offiziell verurteilte der Richter den russischen Historiker wegen angeblichen sexuellen Missbrauchs der Adoptivtochter. 

Teilen
Juri Dmitrijew soll für dreieinhalb Jahre in ein Straflager.
Juri Dmitrijew soll für dreieinhalb Jahre in ein Straflager.Foto: Wladimir Larionow/AP/dpa

Der russische Historiker Juri Dmitrijew (64) ist zu dreieinhalb Jahren Straflager verurteilt worden. Offiziell erging der Schuldspruch vor Gericht in Petrosawodsk am Mittwoch, weil er seine Adoptivtochter sexuell missbraucht haben soll. Aber die Menschenrechtsorganisation Memorial, für die Dmitrijew arbeitete, kritisierte die Vorwürfe als Erfindung, um den Geschichtswissenschaftler mundtot zu machen. Er hatte sich erfolgreich um die Aufklärung von Massenmorden in der Zeit des sowjetischen Diktators Stalin bemüht und sich damit Feinde gemacht. Russland kennt viele solcher Fälle – und es werden immer mehr.

Wie in einer Videoschalte von Memorial aus dem Norden Russlands zu sehen war, machte sich trotz des Schuldspruchs Erleichterung breit. Die Staatsanwaltschaft hatte 15 Jahre Haft beantragt. Unter Anrechnung seiner Untersuchungshaft könnte der Menschenrechtler im November freikommen. Memorial kritisiert die Vorwürfe gegen Dmitrijew als „besonders brutal“, weil in diesem Fall auch ein Kind mit  hineingezogen wurde. „Opfer ist nicht nur Dmitrijew, sondern auch seine Tochter, die um ihr Leben in ihrer Familie gebracht wurde.“

Beweise für eine Schuld Dmitrijews gibt es auch laut einem Gutachten nicht. Doch den Behörden in der Republik Karelien an der Grenze zu Finnland gefiel vor allem nicht, dass der Historiker den Verbrechen unter Stalin nachspürte. Das Kulturministerium in Karelien sah die Gefahr, dass dadurch der „internationale Ruf Russlands“  Schaden nehmen könnte.

Dmitrijew hatte 1997 nach Forschungen zu Hinrichtungen unter Stalin in Sandarmoch ein Massengrab mit 7000 Leichen aus der Zeit des Großen Terrors von 1937 und 1938 gefunden. Allein für diese Zeit rechnen Historiker mit einer Dreiviertelmillion Erschossener in der Sowjetunion. Dmitrijew organisierte das Gedenken – geriet damit aber jenen Kräften in die Quere, die Stalin verehren.

Stalin wird in Russland zunehmend rehabilitiert. In Wolgograd – einst Stalingrad – wurde sein Porträt bei einer halb offiziellen Parade zum 75.Jahrestag des Sieges über Deutschland mitgeführt. 
Stalin wird in Russland zunehmend rehabilitiert. In Wolgograd – einst Stalingrad – wurde sein Porträt bei einer halb offiziellen Parade zum 75.Jahrestag des Sieges über Deutschland mitgeführt.
Foto: Dmitry Rogulin/imago images/ITAR-TASS

„Wir müssen an jene Menschen erinnern, die durch den Willen der Anführer unseres Staates starben“, sagte Dmitrijew vor Gericht. Er halte das für seine patriotische Pflicht, sagte er jenen, die ihm vorwerfen, er wolle Russlands Geschichte mit Füßen treten. „Dmitrijews Anklage ist im Kontext mit den Anstrengungen der russischen Behörden zu sehen, die Verbrechen Stalins kleinzureden“, teilte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mit.

Medien zeichneten nach, wie Ermittler 2016 in Dmitrijews Anwesenheit in seine Wohnung eindrangen und von seinem Computer Dateien sicherten. Dort gab es auch Bilder der nackten Adoptivtochter, die Gutachter ausdrücklich nicht als Kinderpornografie einstuften. Dmitrijew ist mehrfacher Vater und Großvater – niemand bezeugte pädophile Neigungen, auch Psychiater nicht. Die Nacktfotos hatte er nach eigener Darstellung gemacht, um die Entwicklung des unterernährten Kindes zu dokumentieren.

In einem ersten Prozess war der Historiker freigesprochen worden, das oberste Gericht Kareliens hob das Urteil aber auf. Kritiker sehen Dmitrijews Fall als einen von vielen. Russische Oppositionellen beklagen inzwischen landesweit immer schlimmere Repressionen gegen Andersdenkende. Demonstranten und Aktivisten finden sich oft in Haft als Staatsfeinde wieder – unter anderem wegen Extremismus. Und fast immer gibt es in den Verfahren – wie im Fall Dmitrijew – zweifelhafte Beweise.

Der frühere Journalist Iwan Safronow, der Skandale in der Rüstungsindustrie öffentlich machte, sieht sich vom Inlandsgeheimdienst FSB als Spion für die Nato beschuldigt. Der FSB steht bisweilen in der Kritik – wie sein Vorgänger KGB – mit gefälschten Beweisen und gekauften Zeugen gegen Systemkritiker vorzugehen. In beiden Organisationen diente auch Präsident Wladimir Putin – am Ende als FSB-Chef. Der Herr im Kreml nehme inzwischen alles in Kauf, um sich an der Macht zu halten, schreibt die Politologin Lilja Schewzowa bei Facebook.

In der Stadt Chabarowsk demonstrierten Zehntausende für die Freilassung des inhaftierten Gouverneurs.
In der Stadt Chabarowsk demonstrierten Zehntausende für die Freilassung des inhaftierten Gouverneurs.Foto: Igor Wolkow/AP/dpa

Ähnlich aufsehenerregend wie Safronows Inhaftierung war zuletzt die des Gouverneurs Sergej Furgal, der wegen des Vorwurfs mehrfachen Mordes in Untersuchungshaft sitzt – in seiner Region Chabarowsk im Fernen Osten gibt es seither große Demonstrationen gegen die Regierung in Moskau.

Kommentatoren meinten daraufhin, der Kreml habe sich schon viel einfallen lassen, um sich unliebsamer Gouverneure zu entledigen – vor allem Prozesse wegen Korruption und Betrugs. Aber Mord – das übertreffe alles Bisherige.

Die politisch inszenierten oder bestellten Prozesse zeigten die ganzen Auswüchse eines „fortgeschrittenen Autoritarismus“, stellt der Experte Andrej Kolesnikow bei der Moskauer Denkfabrik Carnegie Center fest. Er sieht Mechanismen, die es schon zu KGB-Zeiten gab: die Suche nach äußeren und inneren Feinden und eine Verschärfung der Repressionen. Damit würden etwa wirtschaftliche Probleme überdeckt.

Iwan Golunow (l.) will Klarheit in seinem Fall, mit Kollegen des Online-Magazins Meduza klagte er im November 2019 gegen die Trägheit der Ermittler.
Iwan Golunow (l.) will Klarheit in seinem Fall, mit Kollegen des Online-Magazins Meduza klagte er im November 2019 gegen die Trägheit der Ermittler.Foto: dpa picture alliance

Kremlkritiker sehen darin in erster Linie das Ziel, die Gesellschaft mit harten Urteilen in Angst zu versetzen. Doch immer mehr Menschen in Russland gehen auf die Straße, um gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. Im vergangenen Jahr führte das zur Freilassung des Journalisten Iwan Golunow. Ihm hatte die Polizei in Moskau Drogen untergeschoben, um ihn aus dem Weg zu räumen. Golunow hatte ein mafiöses System im Polizeiapparat und die Verwicklung der Beamten ins Beerdigungsgeschäft aufgedeckt und sich so Feinde gemacht.