Srebrenica bleibt Europas offene Wunde
Beim schlimmsten Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg starben 8000 Muslime. UN-Blauhelmtruppen schauten tatenlos zu.

Mehrmals am Tag rezitiert Fatima Mujic (75) die Gebete der Toten für ihre Söhne und ihren Ehemann, die beim Völkermord in Srebrenica getötet wurden. Aber sie zögert jedes Mal, wenn sie an Refik denkt, den Ältesten, der auch 25 Jahre nach dem Massaker noch nicht gefunden wurde.
„Ich denke immer noch, dass er irgendwo lebt“, sagt die Witwe aus Srebrenica der Nachrichtenagentur AFP. Zwei ihrer drei Söhne und ihr Ehemann, deren Überreste nach dem Krieg in Massengräbern gefunden wurden, wurden 2010 in der Gedenkstätte in der Nähe von Srebrenica beigesetzt.

In dem kleinen Ort im Osten Bosniens fand im Juli 1995 das blutigste Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg statt: Am 11. Juli 1995 begannen die bosnisch-serbischen Streitkräfte von General Ratko Mladic mit der Erstürmung der muslimischen Enklave, die zur UN-Sicherheitszone erklärt worden war. Mehrere Zehntausend Menschen suchten Schutz bei den niederländischen UN-„Blauhelmen“ in ihrer Basis Potocari am Ortseingang von Srebrenica. Auch Fatima erinnert sich daran, wie sie mit tausenden Frauen, Kindern und älteren Menschen zur Basis floh, erinnert sich an ihren Kampf, um ihren jüngsten Sohn zu retten. Nufik, 16 Jahre alt.
Denn als die serbischen Milizen am Nachmittag des 13. Juli 1995 in das Lager einrückten, leistete die schlecht ausgerüstete niederländische UN-Truppe keinen Widerstand. . Dem sichtlich vor Angst schlotternden Oberst Thomas Karremans, Kommandeur des UN-Bataillons („Dutchbat“), diktierte General Mladic die Bedingungen seiner Kapitulation – vor den laufenden Kameras des serbischen Fernsehens. Serbische Soldaten trennten die 15.000 Männer und Jungen von den anderen. „Nufik hielt sich an mir fest und sagte: Mama, verlass mich nicht“, berichtet Fatima.

Die Blauhelme assistierten noch bei der Deportation von 23.000 Frauen und Kindern, ehe sie bei freiem Geleit abziehen durften. Die Männer und Jungen blieben zurück, viele versuchten durch die Wälder zu fliehen. Eine Treibjagd begann. In den darauffolgenden Tagen töteten die serbischen Einheiten mehr als 8.000 von ihnen und verscharrten sie in Massengräbern. Knapp 7.000 der Opfer sind inzwischen namentlich identifiziert und auf dem Gedenkfriedhof in Potocari beigesetzt.
Dieses Massaker, das fünf Monate vor dem Ende des Bosnienkrieges stattfand, wurde von der internationalen Justiz als Völkermord eingestuft. Für Ex-General Ratko Mladic und den serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic (1941-2006) standen die ostbosnischen Muslime ihrem Projekt eines ethnisch reinen „Groß-Serbiens“ im Weg. Mladic wurde wie der Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, vom Haager UN-Tribunal zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine Mitschuld sprachen Richter im Juni 2017 zudem den Niederlanden zu. Der Staat soll den Opferfamilien eine Teil-Entschädigung zahlen, weil die Blauhelmsoldaten die Zivilisten nicht schützten.

Juristisch ist das Massaker von Srebrenica aufgearbeitet - moralisch aber noch nicht. Auch fast ein Vierteljahrhundert später gibt es Politiker, die die Ereignisse von Srebrenica herunterspielen oder sogar leugnen.
Und auch fast ein Vierteljahrhundert später werden Leichen und Leichenteile gefunden. Durch aufwändige DNA-Analysen werden sie den Opfern zugeordnet. Auch am 25. Jahrestag des Verbrechens von Srebrenica wird man am Samstag wieder sterbliche Überreste von Opfern im Rahmen des Gedenkens in Potocari beisetzen.
Nur einen Steinwurf vom Denkmal am Ort des Massakers entfernt, lebt eine andere Witwe, Mejra Djogaz (71). Omer und Munib, ihre beiden bei dem Massaker getöteten Söhne, ruhen dort. Sie waren 19 bzw. 21 Jahre alt. „Warum haben sie meine Kinder getötet? Sie waren unsere Nachbarn“, sagt die Frau gegenüber AFP über die serbischen Soldaten, die in ihrem Dorf lebten. Auch Ramiza Gurdic (67) fragt sich: „Wer sind diese Männer, die meine beiden Söhne und meinen Ehemann getötet haben: Hatten sie Kinder, wie ist ihre Seele?“ Aber dennoch wünscht Ramiza den Tätern nichts Böses. „Möge Gott ihnen geben, was sie verdienen. Keinen Hass, keine Bosheit, aber auch keine Versöhnung.“