Gereon Hermens, Anti-Atomkraft-Aktivist, sitzt in seinem Keller neben Kisten mit Schutzausrüstungen.
Gereon Hermens, Anti-Atomkraft-Aktivist, sitzt in seinem Keller neben Kisten mit Schutzausrüstungen. Oliver Berg/dpa

Im Keller von Familie Hermens in Aachen liegt die Ausrüstung für den Super-Gau. In Plastikbehältern liegen 25 Schutzanzüge, dazu Atemschutzmasken und Jodtabletten. Lebensmittelvorräte für zwei Wochen werden immer wieder aufgefüllt. Dass am 15. April die letzten drei deutschen Atomkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 abgeschaltet werden, wird daran nichts ändern. Denn im weniger als 60 Kilometer von Aachen entfernte belgische AKW Tihange sind zwei der drei Reaktoren weiter in Betrieb.

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„Wir sind keine Prepper-Familie“, betont Bauingenieur Gereon Hermens, in Anspielung auf Leute, die ständig das Schlimmste befürchten und sich dementsprechend einbunkern. „Aber wir haben uns eben gefragt: Was ist, wenn wirklich was passiert?“

Im Ernstfall will Familie Hermens zwei Wochen lang das Haus nicht verlassen

Der Notfallplan der Familie: Falls Tihange in die Luft fliegt, würden die drei Kinder aus der Schule in Papas Büro in der Innenstadt kommen und von dort mit ihm nach Hause fahren. Dort würden sie dann erstmal (mit den Meerschweinchen aus dem Garten) für zwei Wochen im Haus bleiben, um radioaktivem Regen – dem Fallout – zu entgehen. 

Gereon Hermens ist in gewisser Weise symptomatisch für den deutschen Atomausstieg, der sich auf die Formel bringen lässt: „Wir sind raus – aber wir sind auch die einzigen.“ Die Sache sei deshalb noch nicht ausgestanden.  

Das belgische Atomkraftwerk Tihange in Huy, 60 Kilometer von Aachen entfernt.  Anfang Februar war einer von drei Reaktoren dort abgeschaltet worden. Weitere drei befinden sich im AKW Doel bei Antwerpen.
Das belgische Atomkraftwerk Tihange in Huy, 60 Kilometer von Aachen entfernt.  Anfang Februar war einer von drei Reaktoren dort abgeschaltet worden. Weitere drei befinden sich im AKW Doel bei Antwerpen. Oliver Berg/dpa

Vereinfacht könnte man sagen, dass die Deutschen mit der Atom-Kontroverse den bürgerlichen Protest einstudiert haben. In der Anti-Atomkraft-Bewegung fanden erstmals breite Schichten der Bevölkerung zusammen. „Die Kontroverse über die Kernenergie war die größte öffentliche Kontroverse in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik“, sagt der Umwelthistoriker Joachim Radkau.

Die Abwehr von Atomkraftwerken brachte unterschiedliche Gruppen zusammen

So brachte der geplante Bau eines Kernreaktors im badischen Wyhl Mitte der 70er Jahre  linke Freiburger Studenten und konservativ eingestellte Winzer und Bauern auf die Beine.  

Familie Hermens hat einen Vorrat von Jodtabletten, die die Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse nach einem Atomunfall blockieren sollen.
Familie Hermens hat einen Vorrat von Jodtabletten, die die Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse nach einem Atomunfall blockieren sollen. Oliver Berg/dpa

Die damaligen Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten waren heftig. Beide Seiten gingen davon  aus, dass es hier nicht nur um eine Energiefrage ging, sondern um die Zukunft der deutschen Demokratie. „Die Atomkraft bedingt den Polizeistaat“, war eine bekannte Aussage der Grünen-Mitbegründerin Petra Kelly. 

Die Tatsache, dass dem Protest der AKW-Gegner langfristig Erfolg beschieden war, widerlegt die These vom Atomstaat klar. Radkau warnt denn auch vor einem Schwarzweißdenken nach dem Motto: hier die Aktivisten, dort die Atomlobby. „Gerade die Ingenieure, die Techniker wussten von Anfang an um die Risiken der Atomkraft, und deshalb gab es gerade auch in der Energiewirtschaft namhafte Skeptiker.“ Zwischen beiden Seiten habe es hinter den Kulissen schon früh Gespräche gegeben. 

Anti-Atomkraft-Bewegung setzte alle Hebel in Bewegung

Die Deutschen übten im Zuge der Atomkraft-Kontroverse viele Mobilisierungsformen ein: Bürgerversammlungen, Eingaben an die  Verwaltungen, Klagen vor Gericht. „Es wird heute zu wenig beachtet, dass Anti-AKW-Aktivisten frühzeitig Rückhalt bei Gerichten fanden“, sagt Radkau.

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 bestätigte die Befürchtungen. Nach den Grünen schrieb sich nun auch die SPD den Atomausstieg auf die Fahnen. 2002 beschloss die rotgrüne Bundesregierung ein Ende der Atomstromproduktion nach 32 Jahren pro Kraftwerk. Neubauten waren nicht mehr erlaubt.

Fukushima brachte die Wende: Merkel drückte den Atomausstieg durch

Acht Jahre später verlängerte die schwarzgelbe Koalition die Laufzeiten wieder, doch nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 drückte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den endgültigen Ausstieg durch. 

Die drei genannten AKW blieben über 2022 hinaus nur am Netz, weil man fürchtete, dass wegen des Ausbleibens russischen Gases die Stromversorgung wacklig wird. 

Für Gereon Hermens ist der Ausstieg überfällig. „Ich finde es frustrierend, dass über einen so langen Zeitraum hinweg ein so unfassbarer Aufwand betrieben werden musste, um die damit verbundenen Gefahren und die Ewigkeitskosten zu erkennen und dann letztlich zu handeln. Jetzt hat es zwar geklappt, und das mag meinerseits mit einer gewissen Erleichterung verbunden sein. Aber Genugtuung empfinde ich nicht.“

Und die Schutzanzüge im Keller? „Davon hoffe ich, dass das die überflüssigste Investition meines Lebens gewesen ist.“