Bei den Argumenten für das Trinkgeld sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Aber in wessen Taschen das Geld letztlich landet, bleibt oft unklar.
Bei den Argumenten für das Trinkgeld sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Aber in wessen Taschen das Geld letztlich landet, bleibt oft unklar. blickwinkel/imago images

Eine USA-Reise im vergangenen Jahr hat mir die Augen geöffnet. Mir war bewusst, dass ein großzügiges Trinkgeld in den Staaten üblich ist. Weil ich seit Jahrzehnten nicht mehr dort war, war ich dennoch überrascht zu sehen, wie weit sich die Trinkgeld-Kultur in der Zwischenzeit verselbständigt hatte. Die Inflation hat die Preise in schwindelerregende Höhen katapultiert: Zehn Dollar und mehr für ein mittelmäßiges Bier! Die Preise im Menü werden ohne die fällige Mehrwertsteuer ausgezeichnet, und auf den Betrag müssen Sie selbst ein Trinkgeld aufschlagen, das zwischen zehn und 20 Prozent betragen sollte – sonst wird das Personal Sie möglicherweise beim nächsten Getränkewunsch ignorieren.

Das Gespenst der „Tipflation“ macht die Runde: Selbst in Selbstbedienungslokalen wird Trinkgeld verlangt

Immer mehr Amerikaner hinterfragen ihre eigene Trinkgeld-Tradition, seitdem sie inzwischen sogar in Selbstbedienungslokalen und To-go-Cafétheken per Knopfdruck entscheiden sollen, ob sie auf die Bestellung fünf, zehn oder 15 Prozent Trinkgeld aufschlagen wollen. Das Wort von der „Tipflation“ macht die Runde: Was man früher gerne für guten Service dazugezahlt hat, wird inzwischen immer offensiver eingefordert – selbst wenn man selbst das Tablett zum Tisch trägt oder überhaupt keine Sitzgelegenheit besteht.

So weit ist es in deutschen Kneipen, Bars und Restaurants zum Glück noch nicht, aber auch hier wirft die mildere Form der „Tipflation“ Fragen auf. Zwischen fünf und zehn Prozent Trinkgeld, das sei in Deutschland üblich, lese ich. Ein „ungeschriebenes Gesetz“ sei es, Trinkgeld zu geben. Wer schreibt diese ungeschriebenen Gesetze eigentlich? Bei unseren europäischen Nachbarn gelten andere Gesetze: In Belgien ist Trinkgeld Teil des Preises und wird auf dem Kassenzettel auf den Cent genau ausgewiesen. In Frankreich ist Trinkgeld eher besonderen Gelegenheiten vorbehalten oder es wird etwas aufgerundet. Reisenden fällt auf, dass üppige Trinkgelder weltweit eher unüblich sind.

Obskure Geldwege: Bei wem landet das Trinkgeld überhaupt?

Geiz liegt mir fern, ich gebe eher zu viel als zu wenig Trinkgeld – aber mir wäre lieber, der vermeintliche Grund für Trinkgelder würde obsolet: die bescheidene Bezahlung des Personals. Eine Freundin, die als Kellnerin jobbte, sagte mir, nur ein Bruchteil der Trinkgelder, die ihr zufriedene Kundinnen und Kunden gaben, konnte sie überhaupt behalten. Das Geld wurde unter dem gesamten Personal, einschließlich des Chefs, aufgeteilt. In Magdeburg lehnte ein Kellner neulich meine Bitte ab, den Betrag per Kartenzahlung aufzurunden: Davon würde er selbst keinen Cent bekommen.

Das Trinkgeld landet also letztlich: in den Taschen von irgendjemand, hilft aber kaum der Person, die mich gerade besonders nett bewirtet. Das weiß inzwischen mehr oder weniger jeder, und dennoch halten wir uns an ein ungeschriebenes Gesetz, dessen Unsinn immer offensichtlicher wird. In der Corona-Zeit haben Wirte und Cafébetreiber gelernt, was die schlechte Bezahlung ihres Personal bewirkt: Es nimmt Reißaus, sucht sich einen besser bezahlten Job.

Einen Aufschlag von fünf oder zehn Prozent auf alle Getränke, Speisen und Snacks im Restaurant, Café oder in der Bar: Wenn dieser tatsächlich dem Personal zukommt, wäre das eine faire Regelung, der die unselige Überlegung, wie viel Trinkgeld eine Kellnerin denn jetzt verdient habe, beenden würde: Streicht das ungeschriebene Gesetz, macht eine faire Regel daraus!