Russen schwärzen massenhaft Gegner des Kriegs in der Ukraine bei den Behörden an
Eine Flut von Denunziationen bringt kritische Russen vor Gericht und schlimmstenfalls ins Straflager, teilweise wegen Nichtigkeiten

Eine Mutter in Moskau verriet den eigenen Sohn, der sich der Einziehung in die russische Armee entzogen hatte: Propaganda für den Angriff auf die Ukraine und der Wunsch, unliebsamen Nachbarn eins auszuwischen, führt zu einer Flut von Denunziationen in Russland. Einer Flut, die selbst dem Kreml unangenehm zu werden scheint und anfängt, dem lebensgefährlichen Anschwärzer-Wesen der Stalinzeit zu gleichen.
Alexej und Oksana Wesselow zählten zu den ersten Russen, denen das neue Gesetz über die „Diskreditierung“ der eigenen Armee zum Verhängnis wurde. An einem Tag im März 2022 saß das Ehepaar im Speisesaal eines Sanatoriums in der südrussischen Region Kabardino-Balkarien und unterhielt sich über die Verwandtschaft.
Wenige Wochen zuvor hatte Kremlchef Wladimir Putin den Einmarsch in die Ukraine befohlen und nun sorgt Oksana Wesselowa sich um ihre 87 Jahre alte Mutter, die in Kiew lebt.
Strafe wegen eines kriegskritischen Satzes
Alexej Wesselow entgegnet, dass es diese Kämpfe eigentlich überhaupt nicht geben dürfte – eine Tischnachbarin schnappt die Worte auf, alarmiert die Security des Erholungsheims, die Wesselows werden festgenommen. Später kommen sie wieder frei, doch Alexej wird von einem Gericht zu einer Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (rund 355 Euro) verurteilt.
Putins Angriffskrieg hat Tod, Zerstörung und riesiges Leid über das Nachbarland gebracht. Doch auch in Russland selbst hinterlässt er große Spuren. Hunderttausende Menschen sind aus Protest gegen die Invasion oder aus Angst vor einer Einberufung in die Armee aus dem flächenmäßig größten Land der Welt geflohen. Derweil leben die Kriegskritiker, die geblieben sind, immer gefährlicher. Denn innerhalb der russischen Gesellschaft beflügelt der Krieg eine finstere Praxis: das Denunziantentum.
Bereits im ersten Halbjahr 2022 registrierte die russische Aufsichtsbehörde Roskomnadsor fast 145.000 Beschwerden von Bürgern – ein Anstieg von 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Zwar kommt es nur in einem Bruchteil tatsächlich zu Verurteilungen, doch die Angst ist bei vielen groß.
Denunzianten können Opfer ins Straflager bringen
Immerhin gibt es seit Kriegsbeginn eine ganze Reihe an neuen Gesetzen, die sich relativ beliebig auslegen lassen. Allen voran das gefürchtete Gesetz über die Verunglimpfung von Russlands Streitkräften. Im schlimmsten Fall drohen dafür 15 Jahre Straflager.
Mitbürger aus niederen Beweggründen an die Staatsmacht zu verraten, hat in Russland eine lange und tragische Tradition. Im Terror des Sowjetdiktators Josef Stalin (1927-1953) hatte es Denunzierungswellen gegeben, was dazu beitrug, Millionen von Menschen in die mörderischen Zwangsarbeit im Gulag zu bringen, Hunderttausende ihr Ende per Genickschuss fanden.
Der Denunzierende wiederum schlägt im Zweifel zwei Fliegen mit einer Klappe. Oder – wie das Sprichwort wörtlich aus dem Russischen übersetzt heißt – tötet zwei Hasen auf einmal: Er erfüllt eine vermeintlich patriotische Pflicht und entledigt sich gegebenenfalls auch noch eines unliebsamen Mitmenschen. Und so ist es wohl kaum verwunderlich, dass auch die aktuellen Fälle sich oft im engen privaten oder beruflichen Umfeld ereignen.

Russische Schüler verpetzen Lehrerin
In der Stadt Pensa südöstlich von Moskau etwa wurde eine Englischlehrerin zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, nachdem Schüler sie für kriegskritische Äußerungen verpetzt hatten.
In St. Petersburg riefen Anwohner die Polizei, weil sie sich durch ihren Nachbarn gestört fühlen, der im Auto laut ukrainische Musik hört. Der Mann musste umgerechnet mehr als 350 Euro Strafe zahlen.
In Moskau wurde eine Achtklässlerin von der Mutter einer Mitschülerin wegen des Zerknüllens einer russischen Papierflagge angezeigt.
Kreml-Sprecher nennt Denunzierungen abscheulich
Selbst dem Kreml scheint die Wucht, mit der Bespitzelung und Verrat wieder in Mode gekommen sind, nicht ganz geheuer zu sein. „Was Denunzierungen betrifft, so war das stets etwas Abscheuliches, ist es noch immer und wird es, wie ich hoffe, auch bleiben“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow kürzlich, als er von Journalisten darauf angesprochen wurde, dass sich seine Landsleute mittlerweile mit Anschuldigungen förmlich überhäufen.
Doch ob sich der einmal ins Rollen geratene Stein nun so schnell wieder stoppen lässt, ist fraglich. Je repressiver der Staatsapparat gegen Kritiker und Andersdenkende vorgehe, desto mehr entstehe bei kremltreuen Russen der Eindruck, dass es einen Feind auch im Inneren gebe – und dass bei dessen Bekämpfung ihre Mithilfe gefragt sei, sagt der Historiker Ilja Utechin dem kritischen Fernsehsender Nastojaschtscheje Wremja.
„Es existiert die Idee, dass wir von Feinden umzingelt sind, dass es bei uns eine ‚fünfte Kolonne‘ gibt, die es aufzuspüren gilt, und dass die gesellschaftliche Aktivität nicht gleichgültig eingestellter Bürger ein wichtiges Instrument ist“, meint der Experte.
Vollzeit-Denunziant geht auf prominente Künstler los
Und wo eine „fünfte Kolonne“ – also ein innerer Feind – vermutet wird, will sich so mancher Patriot nicht mehr auf Nachbarschafts-Bespitzelungen verlassen. Längst haben sich regelrechte Vollzeit-Denunzianten herausgebildet, beispielsweise der politische Aktivist Witali Borodin, der sich auf Beschwerden gegen Prominente spezialisiert hat.
Borodin hat bereits die Popdiva Alla Pugatschowa angezeigt, zudem den Sänger Waleri Meladse und die Schauspielerin Lija Achedschakowa. Er bat die russische Generalstaatsanwaltschaft, die Frontsängerin der Band „Notschnye Snajpery“, Diana Arbenina, zu überprüfen. Manchen Stars wirft Borodin die angebliche Finanzierung des ukrainischen Militärs vor, fast allen die Diskreditierung der russischen Armee.
Für diejenigen, die noch in Russland sind, dürfte es fast schon zweitrangig sein, ob die Justiz das am Ende genauso sieht und ihnen eine Geldbuße aufdrückt oder nicht. Denn ihre Konzerte sind jetzt schon teils abgesagt, Gastrollen beendet, Verträge vorzeitig aufgelöst. In einem Krieg führenden Russland der „Armee-Diskreditierung“ verdächtigt zu werden, ist in gewisser Weise schon Urteil genug.