Interkontinentalraketen vom Typ Topol-M auf einem Trägersystem bei einer Militärparade in Moskau – Russland droht dem Westen mit einem Nuklearschlag.
Interkontinentalraketen vom Typ Topol-M auf einem Trägersystem bei einer Militärparade in Moskau – Russland droht dem Westen mit einem Nuklearschlag. imago/Zuma Wire

Kaum saß Putin am Mittwoch vor den Kameras, sprach Russlands Diktator schon wieder eine Drohung gegen den Westen aus. „Wenn seine territoriale Integrität bedroht ist, wird Russland alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Das ist kein Bluff“, so Putin. Mit allen Mitteln meint der russische Herrscher auch Atomwaffen. Doch wird der Kreml-Autokrat sie wirklich auch gegen Nato-Staaten einsetzen?

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Der Politikwissenschaftler Jannis Kappelmann forscht an der Universität Hamburg unter anderem zu Atomwaffen im Rahmen von Sicherheitspolitik. Mit ihm sprachen wir aus diesem Anlass über russische Drohungen gegen die Ukraine und den Westen und darüber, ob das Atomwaffenarsenal so marode daherkommt wie die russische Armee in der Ukraine.

Herr Kappelmann, Putin drohte dem Westen und der Ukraine gestern explizit auch mit dem Einsatz von Atomwaffen. Wie groß ist die Chance, dass Putin wirklich Atomwaffen einsetzt?

Aus meiner Sicht ist die Gefahr, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt, weiterhin sehr gering, es gibt keine Anzeichen, dass Russland einen Einsatz konkret vorbereitet. Nichtsdestotrotz besteht eine gewisse Gefahr. Es wäre sowohl ein Fehler, diese Drohungen zu ignorieren, als auch einen nuklearen Einsatz als kausale Folge der Unterstützung der Ukraine, von Waffenlieferungen, eventuell einer Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart, zu sehen. Ein Einsatz von Nuklearwaffen wäre für Putin in jedem Falle unverantwortlich und unklug – internationale und nationale Reaktionen wären massiv. In der internationalen Gemeinschaft gilt, dass ein nuklearer Einsatz absolut tabu ist – das Brechen dieses Tabus dürfte zu einer kompletten, noch weitergehenden Isolation der Russischen Föderation führen. Es ist daher möglich und notwendig, die Ukrainer mit Waffen in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen und Putins nukleare Drohungen gleichzeitig auf das Stärkste zu verurteilen und so das nukleare Tabu zu stärken.

Russland hat ein schier unendliches Waffenarsenal. Wenn Putin entscheiden sollte, den roten Knopf zu drücken, welche Atomwaffen könnte er einsetzen?

Insgesamt verfügt die Russische Föderation über rund 6000 Nuklearwaffen – mehr als jedes andere Land. Sowohl in Sachen Trägersysteme als auch in Bezug auf die Waffen selbst hat Putin eine große Bandbreite. Ihm stehen beispielsweise Waffen zur Verfügung, die bodengestützt, aus U-Booten oder von Flugzeugen aus eingesetzt werden könnten. Auch die oftmals als „klein“ bezeichneten Atombomben im russischen Arsenal sind sehr groß. Wir reden hier von Bomben, vergleichbar mit der, die in Hiroshima eingesetzt wurde. Diese würden fatale Auswirkungen für Ukrainer:innen sowie die lokale und globale Umwelt mit sich bringen. Neuere Studien betonen auch, dass es keinen allumgreifenden Nuklearkrieg braucht, um die globale Ernährungsversorgungssicherheit aus den Angeln zu heben. Oft werden die Waffen, über die spekuliert wird, auch als „taktisch“ deklariert – das würde aber taktisch sinnvolle Einsatzmöglichkeiten voraussetzen, die sehe ich nicht.

Russlands Diktator Wladimir Putin bei seiner TV-Ansprache.
Russlands Diktator Wladimir Putin bei seiner TV-Ansprache. dpa/Russian President Press Office

Wie schätzen Sie die Qualität der Waffensysteme ein?

In Anbetracht der Qualität des restlichen russischen Gerätes ist diese Frage natürlich verständlich, aber meiner Einschätzung nach etwas irreführend. Russland steckt gerade in den letzten Zügen einer langen Modernisierung des nuklearen Arsenals, laut Verteidigungsminister Schoigu sind 90 Prozent nun „modern“ – was auch immer er damit meint. Soweit die Propaganda – wie es in der Realität aussieht, ist schwer zu sagen – die Raketen werden gewartet und getestet, wie die tatsächlichen nuklearen Sprengköpfe gewartet werden, ist mir nicht bekannt. Aber selbst wenn die Waffen nicht die volle Sprengkraft entfalten würden, wären die Konsequenzen immens.

Wäre ein Erstschlag gegen einen Nato-Staat möglich?

Technisch sicher, aber einen bewussten Angriff halte ich für sehr unwahrscheinlich. Dadurch könnte Putin nichts gewinnen. Die Gefahr sehe ich daher eher in Unfällen oder Misskalkulationen, wenn auch ebenfalls unwahrscheinlich – beides hat die Welt allerdings schon einige Male an den Rand eines Atomkrieges gebracht. Das zeigt auch, wie wenig unsere Unterstützung für die Ukraine einen Einsatz von Nuklearwaffen beeinflusst – wirklich effektiv können wir die Gefahr nur durch eine internationale Stärkung des nuklearen Tabus und, im Endeffekt, der konsequenten Arbeit für nukleare Abrüstung entgegentreten.

Gibt es noch eine ausreichende Raketenabwehr, wie sie zu Zeiten des Kalten Krieges bestand?

Generell ist Raketenabwehr in der Realität schwer umzusetzen. Es gibt Systeme, beispielsweise das amerikanische National Missile Defense System oder das europäische Aegis. Beide Systeme müssten aber sehr schnell reagieren, sind fehleranfällig und schnell überfordert. Sollten beispielsweise viele Raketen gleichzeitig abgeschossen werden, dafür müssen nicht alle nuklear sein, funktioniert ein Schirm nicht zuverlässig. Höchstens für versehentlich abgefeuerte Raketen könnte es reichen.

Ändert die Ansprache etwas an der bisherigen Situation in Bezug auf den Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland?

Putin sagte, dass er die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzen werde, sollte die territoriale Integrität Russlands gefährdet werden. Darauf könnte sich Putin beispielsweise nach einem Beitritt der ukrainischen Gebiete, in denen Putin nun Scheinreferenden angeordnet hat, berufen. Das geht über die russische Nukleardoktrin hinaus, ändert aber aus meiner Sicht die Situation nicht fundamental – es ist ja auch bei Weitem nicht Putins erste Drohung in diesem Krieg. Nichtsdestotrotz gehört aber jede einzelne nukleare Drohung international verurteilt. Der entscheidendere Punkt ist aus meiner Sicht auch die Mobilmachung. Putin eskaliert gegenüber dem russischen Volk sprachlich, um entschlossen zu wirken. Viele versuchen daher nun auszureisen.

Er kann aber durch einen Einsatz nichts gewinnen – die Weltgemeinschaft sollte Putin zeigen, dass diese Drohungen nicht akzeptiert werden. Die UN-Generalversammlung wäre dafür ein guter Ort, so hat es beispielsweise Friedensnobelpreisträgerin Beatrice Finh vorgeschlagen, die Vorsitzende der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen. Antwort auf diese Drohungen müssen internationale nukleare Abrüstungsinitiativen sein, aber auch ein konsequentes Unterstützen der angegriffenen Ukraine. Deutsche Kampfpanzer, wie manch einer nun fürchtet, haben sicherlich keinen nennenswerten Einfluss auf einen möglichen Einsatz.

Was wären die Konsequenzen eines Einsatzes von Atomwaffen für Russland?

Dazu müsste es ja erst mal zu einem Einsatz kommen. Auch vorher, sollte sich ein bewusster Einsatz andeuten, wäre der Druck massiv, auch von Ländern, die Russland weniger skeptisch gegenüberstehen. China und auch Indien haben bereits angedeutet, dass sie einen Einsatz wohl nicht akzeptieren würden. Ich würde vermuten, dass auch die russische Bevölkerung eine Rolle spielen würde. Was konkret nach einem Einsatz passieren würde, ist schwer zu sagen, aber die internationalen Normen gegen einen Nuklearwaffeneinsatz sind stark und lang gewachsen. Es ist sicherlich auch eine Reaktion der Nato im Falle eines Einsatzes über ukrainischem Territorium zu erwarten, aus meiner Sicht würde ein nuklearer Gegenschlag aber keinen Sinn ergeben und hoffentlich auch nicht folgen. Selbst die USA behalten sich vor, auf einen nuklearen Schlag nicht nuklear zu antworten – aus meiner Sicht ein kluger Weg. Die Folgen für die Betroffenen sind aber immer noch am größten. Überlebende von Hiroshima, Nagasaki und den zahlreichen Atomwaffentests leiden beispielsweise immer noch unter den Folgen, von den Hunderttausenden Toten ganz zu schweigen.

Vielen Dank für das Gespräch!