Maskierte Uniformierte und demonstrierende Regime-Kritikerinnen am Sonnabend in Minsk.
Maskierte Uniformierte und demonstrierende Regime-Kritikerinnen am Sonnabend in Minsk. Foto: TUT.BY/AFP

Das mobile Internet wurde abgeschaltet, damit sich die Protestierenden nicht über die Demonstrationsroute verständigen konnten. Metro-Stationen und Unterführungen waren gesperrt. Bei neuen Massenprotesten in Minsk gegen den belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko sind am Sonntag mehr als 250 Menschen festgenommen worden. Das teilte das Innenministerium in der Hauptstadt mit. Auch in anderen Städten des Landes gab es Proteste. Insgesamt beteiligten sich allein in Minsk Zehntausende Menschen – ungeachtet des Demonstrationsverbots.

Sicherheitskräfte nehmen Demonstrantinnen fest und zerren sie in einen Transporter.
Sicherheitskräfte nehmen Demonstrantinnen fest und zerren sie in einen Transporter. Foto: TUT.BY/dpa

Bereits am Samstag waren in Minsk maskierte Uniformierte mit massiver Gewalt gegen friedlich demonstrierende Kritikerinnen des autoritären Staatschefs vorgegangen. Bei den Protesten, an denen sich Tausende Frauen beteiligten, gab es nach Angaben des Menschenrechtszentrums Wesna (Spring 96) mehr als 45 Festnahmen. Auch in anderen Städten gab es Demonstrationen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bekräftigte ihre Sorge über die Entwicklung in Belarus. „Dort wird der Einsatz für Demokratie buchstäblich mit Füßen getreten“, sagte sie in ihrer wöchentlichen Videobotschaft am Sonnabend. „Unser Herz schlägt mit den friedlich Demonstrierenden. Es ist bewundernswert, mit welchem Mut und mit welcher Entschlossenheit sie für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gehen.“

Eine Demonstrantin kniet vor einer Gruppe von Sicherheitskräften. Erneut gingen am Sonntag Zehntausende gegen Staatschef Lukaschenko auf die Straße.
Eine Demonstrantin kniet vor einer Gruppe von Sicherheitskräften. Erneut gingen am Sonntag Zehntausende gegen Staatschef Lukaschenko auf die Straße. Foto: TUT.BY/AFP

Eine junge Frau erlitt in Minsk durch Schläge eines Polizisten eine Platzwunde im Gesicht, als sie einem Uniformierten die Strumpfmaske vom Gesicht zog und der Mann mit voller Wucht zuschlug. Der als „letzter Diktator Europas“ bezeichnete Lukaschenko hatte die Spitzenposten im Sicherheitsapparat zuletzt neu besetzt und gefordert, härter gegen nicht genehmigte Proteste vorzugehen.

Eingekesselt und in Transporter gesteckt

Die Kundgebungen seiner Gegner werden prinzipiell nicht genehmigt, nur die der Unterstützer, die sich in kleiner Zahl am Samstag im Zentrum an der Siegessäule versammelten. Zur gleichen Zeit kamen die Gegnerinnen Lukaschenkos am Platz der Freiheit zusammen. Die Kundgebung richtete sich vor allem gegen die Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa. „Gebt uns unsere Mascha zurück“, skandierten die Frauen.

Vermummte Sicherheitskräfte kesselten die Frauen am Platz der Freiheit ein, packten sie hart an und steckten sie in Gefangenentransporter. Die Frauen waren völlig friedlich, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa vom Ort des Geschehens berichtete. Vielen Frauen gelang es, anschließend den Protestmarsch fortzusetzen. Der Demonstrationszug vereinigte sich später mit weiteren Frauen, bis die Menge auf Tausende anwuchs.

Bislang hielten sich die Sicherheitskräfte gegenüber Frauen weitgehend zurück und nahmen überwiegend Männer fest. Deshalb beteiligten sich viele Demonstrantinnen an den Aktionen. Die Samstage stehen traditionell im Zeichen der Frauenproteste. Zuletzt gerieten aber auch sie ins Visier der Beamten. Die Polizei hatte zuvor eindringlich vor einer Teilnahme gewarnt.

Während der Proteste traf sich Lukaschenko mit dem nationalen Sicherheitsrat. Dabei sagte er der Staatsagentur Belta zufolge mit Blick auf die Militärübungen der Nato im Nachbarland Litauen, wenn die Übung beendet sei, solle die belarussische Armee „angemessen darauf reagieren“. Zuletzt waren viele Streitkräfte an die Westgrenze verlegt worden. Zudem hatte Lukaschenko einen Teil der Armee „in höchste Kampfbereitschaft“ versetzen lassen.

Aufruf zu weiterer Großkundgebung

Zu sehen war auf Videoaufnahmen im Internetportal tut.by auch, wie Frauen einem Beamten eine Kamera wegnahmen, mit der er die Proteste filmte. Sie riefen „Uchodi“ – „Hau ab!“. Auch eine Journalistin, die für das Fernsehen die Lage kommentierte, wurde während ihrer Arbeit mitgenommen.

Swetlana Tichanowskaja, die sich als rechtmäßige Siegerin der Präsidentenwahl vom 9. August sieht, verurteilte aus ihrem Exil in der EU die Polizeigewalt gegen Frauen. „Ich will Sie warnen, dass jeder, der Verbrechen gegen friedliche Demonstranten und sein Volk begeht, die Verantwortung dafür tragen wird“, sagte die 38-Jährige. „Sie haben die Chance, auf die Seite des Volkes zu wechseln und keine verbrecherischen Befehle mehr auszuführen.“

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Die Demokratiebewegung hat für diesen Sonntag zur fünften Großkundgebung gegen Lukaschenko aufgerufen. Während sich an den Samstagen Tausende an den Protesten beteiligen, sind an Sonntagen Zehntausende bis Hunderttausende unterwegs. Die Sonntagsdemonstration steht diesmal unter dem Motto „Marsch der Helden“, der auch der inhaftierten Kolesnikowa gewidmet ist. Der 38-Jährigen wird der Versuch der illegalen Machtergreifung vorgeworfen. Ihre Anwältin hatte das als absurd bezeichnet.

Maria Kolesnikowa ist eine der Gallionsfiguren des Widerstands gegen Präsident Lukaschenko. Sie wurde von Sicherheitskräften entführt und inhaftiert.
Maria Kolesnikowa ist eine der Gallionsfiguren des Widerstands gegen Präsident Lukaschenko. Sie wurde von Sicherheitskräften entführt und inhaftiert. Foto: Dmitri Lovetsky/AP/dpa

In dem zwischen Russland und dem EU-Mitglied Polen gelegenen Land kommt es seit der Präsidentenwahl vor mehr als einem Monat täglich zu Protesten. Nach mehr als 26 Jahren an der Macht beansprucht Lukaschenko den Wahlsieg mit mehr als 80 Prozent der Stimmen für sich. Die Opposition hält dagegen Tichanowskaja für die wahre Gewinnerin. Die Wahl steht international als grob gefälscht in der Kritik.

Maria Kolesnikowa in Gefängnis außerhalb von Minsk

Vor den neuen Protesten am Sonnabend war die inhaftierte Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa in ein anderes Gefängnis außerhalb der Hauptstadt Minsk gebracht worden. Die Gründe für die Verlegung nach Schodsina nordöstlich von Minsk hätten die Behörden nicht genannt, teilte die Opposition im Kurznachrichtendienst Twitter mit.

Die 38-Jährige war am Montag in der Hauptstadt entführt und unter Androhung von physischer Gewalt aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Sie sollte in die Ukraine abgeschoben werden. Das hatte sie aber vereitelt, indem sie kurz vor einem Grenzübergang ihren Pass zerrissen hatte. Kolesnikowa ist eine der wichtigsten Oppositionellen in dem Land. Sie lebte lange in Stuttgart.