Ab dem 1. April darf der Inzidenzwert nicht mehr das alleinige Kriterium für Verbote, Einschränkungen und weitere Lockdown-Maßnahmen sein.
Ab dem 1. April darf der Inzidenzwert nicht mehr das alleinige Kriterium für Verbote, Einschränkungen und weitere Lockdown-Maßnahmen sein. Foto: Imago/Jochen Eckel

Bundestag und Bundesrat haben eine wichtige Änderung im Umgang mit der Corona-Krise beschlossen. Ab dem 1. April darf der Inzidenzwert nicht mehr das alleinige Kriterium für Verbote, Einschränkungen und weitere Lockdown-Maßnahmen sein. Ab dann müssen das Kanzleramt und die Ministerpräsidenten für Beschränkungen laut Gesetz auch andere Zahlen und Werte berücksichtigen. Festgeschriebene Kriterien sind demnach etwa der Reproduktionswert (R-Wert), die Impflage oder die Belastungslage im Gesundheitswesen.

Der Inzidenzwert ist die Zahl der Neuinfizierten je 100.000 Einwohner. Tatsächlich ist der Inzidenzwert als alleiniger Maßstab schon länger umstritten. Als Grund wird vor allem die lückenhafte Datengrundlage bei den Testzahlen genannt. Forschende stellen daher schon länger die Frage, ob der Inzidenzwert als einziger Indikator für die Pandemie-Lage in Deutschland herangezogen werden sollte. Darüber gab es teils erbitterten Streit, Kritiker der Inzidenzgesteuerten Politik der Bundesregierung wurden bisweilen in die Nähe von Corona-Leugnern gerückt.

Das Recherchezentrum Correctiv hat sich ebenfalls ausführlich mit dem Thema befasst und kommt zu dem Schluss: Der Inzidenzwert wird nicht falsch berechnet, aber es gibt Kritik daran, ihn als einzigen Maßstab zu nutzen. Unter anderem wird hier aus einem Gutachten des Epidemiologen Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung zitiert. Krause ist einer dieser Kritiker der reinen Inzidenzwerte und hat zwei Sachverständigengutachten für den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags verfasst.

In seinem Gutachten von Ende Februar beschreibt er das Problem mit den Inzidenzen so: „Durch die im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz beschlossene Koppelung von Maßnahmen an einen einzigen Indikator, nämlich alleinig den Inzidenzwert der Fallmeldungen, hat der Gesetzgeber die Exekutive in Abhängigkeit eines Messwertes gegeben, der nachweislich keine konstante Messgrundlage hat.“ Und weiter: „Zur sachgerechten Bewertung der Fallmeldezahlen ist zusätzlich mindestens notwendig, einen Referenzwert über die Zahl der überhaupt durchgeführten Tests zu erheben.“

Bereits zuvor hatte der Wissenschaftler in einem Gutachten festgestellt: „Die alleinige Reduktion der Lageeinschätzung auf einen einzigen Messwert, wie hier vorgesehen, ist epidemiologisch nicht begründbar und entspricht nicht dem Stand der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz.“ Auf diese Weise würden viele Faktoren nicht berücksichtigt, darunter die Altersverteilung der Fälle, der Anteil schwerer und leichter Erkrankungen oder die Anzahl der Menschen im Krankenhaus.

Welche Auswirkung die beschlossenen Gesetzesänderung hat, gibt der SPD-Rechtsexperte Johannes Fechner nach Angaben der Bild-Zeitung so wieder: „Die Länder müssen jetzt schnell ihre Corona-Verordnungen anpassen. Länder, die sich eins zu eins an den Beschluss des Corona-Gipfels halten, handeln rechtswidrig.“ Von daher ist die Gesetzesänderung auch für die heutige Sondersitzung des Berliner Senats zu weiteren Vorgehensweise in der Corona-Krise relevant.

Der Senat hatte am Dienstag bereits entschieden, den Lockdown zur Eindämmung der Pandemie bis zum 24. April zu verlängern. Darauf hatten sich kurz zuvor Bund und Länder verständigt. Bund und Länder hatten sich Anfang März zudem auf eine sogenannte Notbremse geeinigt. Danach müssten Lockerungen der vergangenen Wochen bei einer stabilen Inzidenz von über 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen zurückgenommen werden. In der Berlin lag der Wert zuletzt seit mehreren Tagen oberhalb dieser Marke.

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In seiner Regierungserklärung im Abgeordnetenhaus betonte Müller am Donnerstag allerdings, er halte es nicht für einen gangbaren Weg, jetzt wieder alles zurückzudrehen, was in den letzten Wochen an Möglichkeiten und Freiheiten erkämpft worden sei. Zu den jüngsten Lockerungen, die unter eine Notbremse fallen könnten, zählen offene Blumenläden und Gartenmärkte, erweiterte Einkaufsmöglichkeiten auch in anderen Geschäften, offene Kosmetiksalons und offene Museen oder Galerien.

Müller kündigte stattdessen die Pflicht für Unternehmen an, mehr Homeoffice-Angebote zu machen. Zudem werde der Senat unter anderem über eine Verschärfung der Maskenpflicht reden.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn appellierte am Freitag an die Länder, die vereinbarte Notbremse bei hohem Infektionsgeschehen auch konsequent anzuwenden. Spahn warnte vor steigenden Infektionszahlen und ansteckenderen Virusvarianten. Man laufe unter Umständen „Gefahr, dass unser Gesundheitssystem im Laufe des April an seine Belastungsgrenzen kommt“, zitierte die dpa den Bundesgesundheitsminister.