„Paukenschlag“-Urteil vom höchsten deutschen Arbeitsgericht: Die Stechuhr kann in Deutschland zurückkehren
Zunächst sollte es nur um Überstunden gehen, doch nun können Mitarbeitende noch stärker kontrolliert werden.

Es wirkt in Zeiten von Homeoffice und gleitenden Arbeitszeiten wie aus der Zeit gefallen: Das höchste deutsche Arbeitsgericht ermöglicht die Rückkehr der Stechuhr in Deutschland. Das Urteil könnte Auswirkungen auf die Arbeitswelt Zehntausender haben.
Nun ist es höchstrichterlich entschieden: Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, über die in der Ampel-Regierung, in der Wirtschaft und unter Arbeitsrechtlern derzeit noch heftig diskutiert wird. Die Präsidentin des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, Inken Gallner, begründete die Pflicht von Arbeitgebern zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten am Dienstag in Erfurt mit der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Arbeitsrechtsexperte nennt Stechuhr-Urteil „Paukenschlag“
Dies verpflichtet Arbeitgeber, ein System zu schaffen, mit welchem die täglich geleistete Arbeitszeit der Mitarbeitenden erfasst wird. Damit soll im Streitfall der Nachweis geleisteter Überstunden erleichtert werden - ein Urteil, das Arbeitnehmern zugute kommt, wenn Arbeitgeber so tun, als wüssten sie nichts von der Mehrarbeit. Das jetzige Urteil geht aber darüber hinaus, weil es die Kontrollmöglichketen der Arbeitgeber stärkt.
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Fachleute rechnen damit, dass das BAG-Grundsatzurteil (1ABR 22/21) weitreichende Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung tausendfach praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben wird, weil damit mehr Kontrolle möglich wird. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Der Bonner Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing nannte die Entscheidung der Bundesarbeitsrichter einen Paukenschlag.
Sie fiel nach Verhandlung eines Falls aus Nordrhein-Westfalen, bei dem ein Betriebsrat mit der Forderung scheiterte, ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zu bekommen. Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht sei ausgeschlossen, wenn es bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt, begründete das Bundesarbeitsgericht seine Entscheidung.
Bundesarbeitsgericht setzt Bundesregierung unter Druck
Mit seinem Grundsatzurteil preschte das Bundesarbeitsgericht in der Debatte um die Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes vor. Die Bundesregierung arbeitet noch daran, die EuGH-Vorgaben von 2019 zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung in deutsches Recht umzusetzen.
Gallner, Vorsitzende Richterin des Ersten Senats, verwies auf einen Passus im Arbeitsschutzgesetz, der Arbeitgeber verpflichte, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. „Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung“, sagte sie in der Verhandlung.