NSU-Enttarnung vor zehn Jahren: Was wussten die Sicherheitsbehörden?
Auch zehn Jahre nach deren Selbstenttarnung am 4. November 2011 sind viele Fragen zum NSU offen.

Zwei Leichen und acht Schusswaffen in einem brennenden Wohnmobil: Mit diesem grausigen Fund in Eisenach in Thüringen flog vor zehn Jahren die NSU-Terrorzelle auf. Erst nach dem blutigen Ende von Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 dämmert der Polizei, dass es Neonazis waren, die zwischen 2000 und 2007 acht Gewerbetreibende mit Wurzeln in der Türkei, einen griechischen Schlüsseldienstbetreiber und eine junge Polizistin töteten.
Wenn die sächsische Linke-Politikerin Kerstin Köditz an jenen 4. November 2011 und die Tage danach denkt, ist ihr ein Gefühl noch immer präsent: „Mir lief es eiskalt den Rücken herunter.“ In Sachsen hatte der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) sein Basislager. Von hier führte seine blutige Spur durchs Land. Die 54-jährige Köditz kennt sich in Sachsen wie kaum eine Zweite in der rechtsextremen Szene aus, hält bis heute Vorträge über den NSU auch in anderen Bundesländern. Noch immer ist sie beschämt über das, was deutsche Sicherheitsbehörden jahrelang versäumten.
Ermittlungen im Umfeld der Opfer statt in der rechten Szene
„Es stellte sich heraus, wie fehlerhaft die Mord-Ermittlungen waren. Da wurde massiv im Umfeld der Opfer gesucht. Niemand kam auf einen rassistischen Hintergrund“, sagt Köditz. Zum Zeitpunkt der Morde seien die Opfer selbst in Verdacht geraten, an Drogenhandel oder Organisierter Kriminalität beteiligt zu sein. „Das war schlimm für die Angehörigen.“ Schlimm sei bis heute für Hinterbliebene auch die Ungewissheit, wie tief der Verfassungsschutz mit seinen V-Leuten und damit der Staat insgesamt in das Geschehen verwickelt war.

Viele NSU-Unterstützer in Sachsen
Für Köditz ist es kein Zufall, dass der NSU in Sachsen abtauchte. Denn hier habe ein ideales Unterstützer-Umfeld mit Organisationen wie dem 2000 verbotenen rechtsextremen Netzwerk „Blood and Honour“ existiert – gerade im Raum Chemnitz. „Nur hatten sächsische Behörden das nicht auf dem Schirm. Als könnten Thüringer Neonazis nicht nach Sachsen kommen, als gebe es eine Mauer zwischen den Freistaaten.“ Köditz ist überzeugt: Hätten Sicherheitsbehörden beider Länder ihren Job richtig gemacht, wäre der NSU gar nicht zum Morden gekommen.

Jahrelang hatte der NSU unentdeckt in Zwickau gelebt. Das Terror-Trio mit Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurde für zehn Morde und weitere Straftaten verantwortlich gemacht. Böhnhardt und Mundlos nahmen sich nach einem Banküberfall am 4. November 2011 in Eisenach das Leben. Nur noch Beate Zschäpe konnte vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden.
Das Oberlandesgericht (OLG) München verurteilte sie als Mittäterin zu lebenslanger Haft. Außerdem stellten die Richter die besondere Schwere der Schuld fest. Köditz bedauert es noch heute, dass sich der Generalbundesanwalt bei seiner Anklage auf Zschäpe und wenige Personen konzentrierte. „Für mich ist das gesamte Netzwerk noch offen. Ich gehe davon aus, dass es Leute gab, die von den Morden wussten und in verschiedener Weise an den Straftaten beteiligt waren. Dass es keine Anklagen mehr geben wird, ist ein großes Dilemma.“
Versagen der Sicherheitsbehörden
„Dass den kaltblütigen Morden und Verbrechen des NSU über Jahre kein Einhalt geboten wurde, ist und bleibt eines der größten Versagen der Sicherheitsbehörden“, sagt Grünen-Innenpolitiker Valentin Lippmann. Er konstatiert, dass es „die organisierte Verantwortungslosigkeit, die fehlende Kompetenz, die Unbeständigkeit und das Desinteresse beim Landesamt für Verfassungsschutz“ waren, die es dem Trio und seinem Umfeld möglich machten, unbehelligt in Sachsen unterzutauchen und von hier aus die Morde zu planen und Banküberfälle zu begehen.
In Thüringen arbeiteten nach dem Auffliegen des NSU zwei Untersuchungsausschüsse die Verfehlungen von Sicherheitsbörden auf. Die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes wurde reformiert, die Kontrolle durch das Parlament gestärkt.
Doch „auch zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU bleiben wichtige Fragen weiterhin offen. Das gilt mit Blick auf Sachsen vor allem für die Rolle und den Umfang von Unterstützungsnetzwerken und die Finanzierung der Terroristen“, sagt Lippmann. Ob Sicherheitsbehörden in Sachsen aus ihrem Versagen die richtigen Schlüsse gezogen haben, dürfe mit Blick auf die vergangenen Jahre bezweifelt werden.
Der Berliner Politologe und Buchautor Hajo Funke („Staatsaffäre NSU“) hat auch Zweifel an der offiziellen Darstellung dessen, was am 4. November 2011 in dem Wohnmobil geschah. Dass zwei schwer bewaffnete Terroristen, die schon oft getötet haben, ihrem Leben ein Ende setzen, weil sich zwei Polizisten ihrem Fahrzeug nähern, leuchtet ihm nicht ein. Er sagt: „Das war kein doppelter Selbstmord. Davon gehe ich aus. Wie es zum Tod der beiden Terroristen kam, das wissen wir bis heute nicht. Auch die Aufklärung zum Unterstützerkreis des Trios bleibt bis heute lückenhaft.“