Nordstream-Anschlag: US-Journalist Seymour Hersh legt nach, beschuldigt Biden und Scholz der Vertuschung – ergibt das Sinn?
Neuer Stoff für Verschwörungsfans – oder ist etwas dran an den neuen Vorwürfen?

Wer gedacht hätte, wilder kann es nicht mehr werden mit den vermeintlichen Enthüllungen, Spekulationen und angeblichen Beweisen um die Anschläge gegen die Nordstream-Pipelines vor der deutschen Küste, wird eines Besseren belehrt. Wie angekündigt, hat der einst als US-Investigativreporter bekannt gewordene Seymour Hersh seine Vorwürfe gegen die US-Regierung erweitert.
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Wesenskern der Darstellung bleibt das, was Hersh vor einigen Wochen auf seinem Blog veröffentlicht hatte: Hinter den Anschlägen steckt seiner Überzeugung nach die US-Regierung, unterstützt von Norwegen. Diese Version war sowohl von Rechten wie Linken in vielen Ländern aufgegriffen worden, die eines eint: glühender Antiamerikanismus. Eine der ersten, die die Vorwürfe Hershs in Deutschland verbreiteten, war Sahra Wagenknecht.
US-Reporter und deutsche Journalisten waren den Spuren der Nordstream-Ermittler gefolgt
Außerhalb dieser Kreise lösten die vermeintlichen Enthüllungen rasch Skepsis aus: Die Vorwürfe basierten im Wesentlichen auf einer anonymen Quelle, von der nicht einmal klar war, wie diese an derart hochsensible Informationen gekommen sein sollte. Keine renommierte Zeitung wollte die Geschichte Hershs abdrucken, weswegen er sie auf seinem Blog veröffentlichte.
In der Zwischenzeit hatten unabhängig voneinander Reporter der New York Times und mehrerer deutscher Medien Bruchstücke der offiziellen Ermittlungen zum Nordstream-Anschlag zusammengetragen. Demnach hatten die Täterinnen und Täter ukrainische Identitäten benutzt, ein Boot angemietet, auf dem später Sprengstoffspuren gefunden wurden. Die Ermittler wollten nicht ausschließen, dass der Sprengstoff von Tauchern angebracht wurde, die keinem Geheimdienst und keinem Militär zugehören.
Nichtstaatliche Gruppe könnte Nordstream-Attentat verübt haben, aber waren doch Geheimdienste beteiligt?
Diese Version, die anders als die Hershs auf überprüfbaren Ermittlungen beruhte, warf aber neue Fragen auf: Sollte der Anschlag tatsächlich von einer nichtstaatlichen Gruppe verübt worden sein, wie soll diese mehrere hundert Kilo militärischen Sprengstoffs besorgt und transportiert haben, um diesen in rund 80 Metern Tiefe zu befestigen? Sollten doch Geheimdienste involviert gewesen sein, welche waren es? Diese Fragen sind weiterhin unbeantwortet.
Daran knüpft wiederum Seymour Hersh mit seinen neuen Vorwürfen an. Sein Problem: Die Ermittlungsergebnisse und Recherchen wollen einfach nicht zu der Version passen, die er vor ein paar Wochen präsentiert hatte.
Nun beruft sich Hersh wiederum auf anonyme Geheimdienstquellen und erklärt, die Ermittlungsergebnisse seien Teil einer großangelegten „Vertuschung“, die US-Präsident Joe Biden zusammen mit Kanzler Olaf Scholz ausgeheckt habe. Für die einschlägigen Kreise ist die Angelegenheit klar:
Für alle anderen, die Verschwörungstheorien nicht sehr zugetan sind, stellen sich dieselben Fragen wie bei Hershs vorherigen Enthüllungen: Was sind diese anonymen Quellen, die der inzwischen 85-Jährige nicht offenlegen will? Sind seine Enthüllungen plausibel – und warum decken sie sich nicht mit den bislang bekannten Fakten?
Reporterlegende beschuldigt Kanzler Olaf Scholz der Komplizenschaft, angebliches US-Attentat verschleiert zu haben
Die Anhänger von Hersh sehen nun Kanzler Scholz als Komplizen der USA, aber was sollte die Motivation der Bundesregierung sein, sich an einer solchen Vertuschungsaktion zu beteiligen? Zunächst gehörte Deutschland zu den Hauptgeschädigten des Anschlags, geriet noch stärker in bedrohliche Gasnöte, als es zuvor infolge der russischen Verknappung der Gaslieferungen bereits war.
Da bis dato nichts bewiesen ist, kann jede und jeder mit Berufung auf anonyme Quellen behaupten, was ihnen beliebt. Bemerkenswert in dem Zusammenhang ist vor allem die Anzahl an russlandfreundlichen Accounts, die derartige Vorwürfe ohne jeden Zweifel aufgreifen. Der Vorwurf, die Bundesregierung wäre in der Lage, mehrere deutsche Investigativ-Redaktionen mit einer fabrizierten Story an der Nase herum zu führen, fällt aber auf die einstige Reporterlegende Hersh zurück: Die deutschen Geheimdienste sind nicht dafür bekannt, besonders subtil oder hochprofessionell vorzugehen, sondern vor allem für: Pleiten, Pech und Pannen. Desinformation ist vor allem die Stärke russischer Propaganda.
Mit Quellen hat es Seymour Hersh auch früher nicht genau genommen
Irgendwann wird ans Licht kommen, warum bislang sämtliche Staaten und Geheimdienste bestreiten, etwas mit den Anschlägen zu tun zu haben. Nachvollziehbare Rechercheergebnisse von anderen Journalistinnen und Journalisten als „Vertuschung“ zu diskreditieren, ist ein bemerkenswerter Affront gegenüber seinem eigenen Beruf: Bereits in der Vergangenheit eilte Hersh der Ruf voraus, es mit Quellen nicht sehr genau genommen zu haben, solange das Ergebnis passte. Was von seinem Ruhm bleiben wird, wird sich zeigen, wenn weitere Bruchstücke herauskommen: Bislang passt wenig zu dem, was Hersh behauptet.
Dass dennoch Teile seiner Darstellung stimmen könnten, ist aber auch nicht auszuschließen, weil außer dem bisher Ermittelten nichts bewiesen ist. So bleibt viel Raum für Spekulationen, doch Aufgabe des Journalismus ist nicht, Verschwörungsgläubigen Futter zu geben – sondern vermeintliche Wahrheiten zu überprüfen, und dazu gehört auch die Glaubhaftigkeit von Quellen zu überprüfen. Hersh erklärt seine Enthüllungen zur Glaubensangelegenheit, und weil wohl kaum jemand außer Hersh dessen Quellen kennt, kann niemand sie hinterfragen. Das mag seinen Anhängern egal sein, es gibt aber Gründe dafür, warum schon länger keine Zeitung und kein Magazin mehr mit Seymour Hersh zusammenarbeiten will.