Die Ukrainerin Agata und ihre Tochter Lisa fahren in einem Zug von Warschau nach Kiew.
Die Ukrainerin Agata und ihre Tochter Lisa fahren in einem Zug von Warschau nach Kiew. dpa/Hannah Wagner

Agata und ihre Tochter Lisa wissen noch nicht, dass sie mitten in den Raketenbeschuss fahren. Tage bevor Kremlchef Wladimir Putin die Ukraine erstmals seit Monaten wieder großflächig angreifen lässt, sitzen die beiden Frauen im Nachtzug aus der polnischen Hauptstadt Warschau nach Kiew. „Meine Ukraine, ich komme wieder“, sagt Mutter Agata und lächelt. Lisa (16) hat sich in Polen gerade eingelebt, einen festen Freund gefunden. Eigentlich wäre sie lieber geblieben.

Mutter und Tochter sind am 25. Februar - einen Tag nach dem russischen Einmarsch nach Polen geflohen. Nun steht der allererste Heimatbesuch seit Kriegsbeginn an. Wie lange sie bleiben wollen? „Mal sehen“, sagt Agata. In Kiew warten Mann und Sohn. Beide dürfen wegen des Kriegsrechts nicht ausreisen.

Menschen die vor dem Krieg fliehen: So sah es im März am Bahnhof Przemysl nahe der ukrainsch-polnischen Grenze aus. Jetzt kehren viele wieder zurück. 
Menschen die vor dem Krieg fliehen: So sah es im März am Bahnhof Przemysl nahe der ukrainsch-polnischen Grenze aus. Jetzt kehren viele wieder zurück.  dpa/Kay Nietfeld

Agata schaut während der Fahrt Videos in sozialen Netzwerken, die ukrainische Soldaten beim Versuch zeigen, das besetzte Gebiet Cherson im Süden des Landes zurückzuerobern. Dann werden tote Russen im kürzlich befreiten Lyman im Donezker Gebiet eingeblendet. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage, aber ich empfinde Freude, wenn ich tote russische Soldaten sehe“, sagt Agata. „Sie haben so viel Schreckliches über unser Land gebracht, sie töten, sie rauben.“

Knapp acht Monate ist es her, dass russische Truppen die Ukraine überfielen. Die Vereinten Nationen haben seitdem mehr als 6200 getötete und knapp 9400 verletzte Zivilisten registriert, gehen aber von noch deutlich höheren Opferzahlen aus. Kiew wirft Moskau Völkermordabsichten vor.

Trotz der Gefahrenlage kehren zunehmend Ukrainer dauerhaft zurück in Gebiete, die als verhältnismäßig sicher gelten. Andere, wie Agata und Lisa, kommen auf Besuch vorbei - um den Ehemann zu sehen oder die kranken Eltern, oder um zu schauen, ob das eigene Haus noch steht.

Blick in einen Gang im Nachtzug von Warschau nach Kiew.
Blick in einen Gang im Nachtzug von Warschau nach Kiew. dpa/Hannah Wagner

Eine verstärkte Heimkehr in die Ukraine ist zu beobachten

Insgesamt vier Millionen Menschen seien in den vergangenen Monaten mit speziellen Evakuierungszügen an sicherere Orte im In- und Ausland gebracht worden, teilt die ukrainische Eisenbahn auf dpa-Anfrage mit. Nun sei eine verstärkte Heimkehr in die Ukraine zu beobachten.

Auch aus Deutschland kehren ukrainische Geflüchtete in ihre Heimat zurück. Eine größere Rückkehrwelle war aber etwa zu Schulbeginn Anfang September feststellbar. Unterm Strich steigt aber  die Zahl der Ukrainer weiter an, die in Deutschland Zuflucht suchen. Anfang August wurden  944.000 ukrainische Flüchtlinge erfasst - im Vergleich zu 819 000 Menschen Anfang Juni.

Im Zug von Warschau nach Kiew sind am Morgen alle etwas zerknautscht. Die Kontrollen an der Grenze haben in der Nacht insgesamt rund vier Stunden gedauert. Der Schaffner bringt Kaffee. Agata und Lisa machen sich bereit. Der Zug nähert sich bereits dem Kiewer Hauptbahnhof.

Als der Zug einfährt, ruft Lisa: „Papa, Papa!“. Sie hat den Vater auf dem Bahnsteig entdeckt. In der Hand hält er einen Strauß voller blauer und gelber Blumen - die Farben der ukrainischen Flagge.

Am darauffolgenden Montag beschießt die russische Armee weite Teile der Ukraine mit insgesamt mehr als 80 Raketen - erstmals seit Kriegsbeginn auch das Zentrum von Kiew. Alleine in der Hauptstadt sterben mehr als ein Dutzend Menschen, landesweit sind es rund 20. Genau eine Woche später schlagen mehrere Kamikaze-Drohnen in Kiew ein. Wieder gibt es Tote und Verletzte. Zwischen den Angriffen meldet Lisa sich auf WhatsApp bei uns: „Entschuldige, dass ich erst jetzt antworte. Uns geht es gut, danke!“