Serpil Temiz Unvar gründete in Hanau die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, benannt nach ihrem Sohn, eines der Opfer des rassistischen Anschlags vom 19.2.2020.
Serpil Temiz Unvar gründete in Hanau die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, benannt nach ihrem Sohn, eines der Opfer des rassistischen Anschlags vom 19.2.2020. Thomas Lohnes/epd

Am 19. Februar vor drei Jahren erschoss ein Rechtsextremist in Hanau neun Migranten, seine Mutter und sich selbst. Der Schrecken ist vor Ort noch spürbar. Eine betroffene Mutter hat ihren Schmerz in eine Kraft für andere verwandelt.

„Ich erlebe den Tag immer wieder“, berichtet Serpil Temiz Unvar. „Jeden Tag denke ich: Ferhat wird noch soundsoviele Tage zu leben haben bis zum 19. Februar.“ An jenem Abend vor drei Jahren erschoss Tobias R. in Hanau kaltblütig acht junge Männer und eine Frau, alle Migranten. Unvar verlor ihr ältestes Kind, Ferhat war 23 Jahre alt. „Letztes Jahr habe ich am 19. Februar drei Schlaftabletten genommen, um zu vergessen. Ich konnte trotzdem nicht schlafen“, sagt sie. Ihren Job bei einem kurdischen Magazin gab sie nach dem Anschlag auf. Aber sie versank nicht im Schmerz.

Mutter wollte aus sinnlosem Tod ihres Sohns etwas Sinnhaftes machen

„Zwei bis drei Tage danach sagte ich mich mir: Diese Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein“, erzählt die alleinerziehende Mutter von vier Kindern. „Ich will aus Ferhats sinnlosem Tod etwas Sinnhaftes machen. Dann hat sich Ferhats Aufgabe in dieser Welt vielleicht erfüllt.“

Sechs Monate nach dem rassistischen Anschlag beschloss Unvar, eine Bildungsinitiative zu gründen. An Ferhats Geburtstag, dem 14. November, rief sie 2020 die Bildungsinitiative Ferhat Unvar ins Leben. Ihr Anliegen sei, Lehrkräfte und Eltern dafür zu sensibilisieren, dass Schülerinnen und Schüler sich nicht alleingelassen fühlten, sagt Serpil Temiz Unvar. Kinder von Migranten sollten keinen Alltagsrassismus mehr erfahren.

„Ich will Jugendliche empowern, dass sie für eine gemeinsame Zukunft arbeiten“, sagt die 47-Jährige. In den beiden Räumen der Initiative am Hanauer Freiheitsplatz gehen junge Erwachsene, Schülerinnen und Schüler ein und aus, die Eintretenden und die Gründerin umarmen sich.

Das Grab von Ferhat Unvar – er war 23, als ihn ein Rechtsextremist tötete.
Das Grab von Ferhat Unvar – er war 23, als ihn ein Rechtsextremist tötete. Nicolaj Zownir/imago

Ferhat lebt in den Jugendlichen weiter

„Ich liebe alle Jugendlichen“, sagt Unvar und strahlt. „Ich sehe Ferhat in den Jugendlichen. Er lebt mit ihnen. Deshalb kann ich weiterleben.“ Manche würden ihr gestehen: „Du hast meinem Leben eine neue Richtung gegeben“, „wegen dir mache ich eine Ausbildung“ oder „ich habe mich verlobt.“ Inzwischen unterstützen fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Teilzeitstellen die Gründerin, die Freunde von Ferhat und die freiwillig Engagierten.

Bildungsinitiative durch Spenden finanziert

Das Landesprogramm „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“ finanziert seit vergangenem August drei halbe Stellen, die anderen werden durch Spenden getragen. Auch die zunächst durch Spenden aufgebrachte Miete wird seit August durch das Programm gedeckt. „Wir arbeiten 24 Stunden am Tag für dieses Land“, sagt Unvar. Eine Hilfe wäre es aus ihrer Sicht, wenn die Initiative langfristig unterstützt würde und nicht ständig einen Papierberg an Projektanträgen bewältigen müsse.

Gedenken an die Toten im Jahr 2022: Neun Migranten wurden am 19. Februar 2020 Opfer der blutigen Attentatsserie.
Gedenken an die Toten im Jahr 2022: Neun Migranten wurden am 19. Februar 2020 Opfer der blutigen Attentatsserie. Boris Roessler/dpa

Die Initiative hat ein Workshop-Konzept für Schulklassen ab der siebten Klassenstufe und für Jugendgruppen ausgearbeitet. Themen sind Antidiskriminierung und der Anschlag vom 19. Februar. Im vergangenen Jahr habe die Initiative 60 Workshops gegeben, für kommenden März seien schon zwölf gebucht. In diesem Jahr werde ein Konzept für Grundschulen erarbeitet. Daneben bietet die Initiative Workshops für Lehrkräfte und Eltern an. Ferner erarbeitet sie zusammen mit einer Frankfurter Soziologie-Professorin ein Modul über Rassismus im Lehramtsstudium.

„Die Schule ist ein wichtiger Schlüssel, um Rassismus zu erlernen oder zu verlernen“, sagt Unvar. Die Hanauerin mit kurdischen Wurzeln ist dabei, Beziehungen zu ähnlichen Initiativen in anderen Ländern zu knüpfen. „Ferhat hätte zu mir gesagt: Bist du bescheuert? Meinst du, du kannst etwas ändern?“, sagt sie. „Aber er hätte trotzdem gewollt, dass ich weitermache.“