Trump-Wahlplakat an einer Landstraße im Bundesstaat Pennsylvania.
Trump-Wahlplakat an einer Landstraße im Bundesstaat Pennsylvania. Foto: AFP/Getty Images/ Spencer

Am Ende kommt es vielleicht auf Anke an. Anke aus Berlin-Karlshorst, Anke, die Radiologin, Anke, meine Schulfreundin.

Anke ist nicht ihr richtiger Name. Sie hat Angst, Nachteile zu haben, wenn ihre Geschichte öffentlich wird. Wir kennen uns, seit wir 16 sind, haben damals im Unterricht zusammen Schals gestrickt und in einer Dorfdisko im Thüringer Wald den Jungs erzählt, dass wir aus dem Westen kommen. Jahre später, als wir beide in den USA lebten, sind wir im Schneesturm unter der Manhattan Bridge spazieren gegangen, haben in Ankes Strandhaus übernachtet und im Golfclub ihres Mannes in Pennsylvania Weihnachten gefeiert.

Dort, in Pennsylvania, wohnt und arbeitet Anke seit 1992, im sogenannten Swing State, wo mal die Demokraten gewinnen, mal die Republikaner, wo es auch diesmal wieder knapp zu werden scheint, wo sich entscheiden könnte, wer die US-Wahlen gewinnt: Joe Biden oder Donald Trump.

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Anke und ich hören manchmal Monate nichts voneinander, aber jedes Jahr schreibt sie mir eine Weihnachtskarte, auf der ihre beiden Söhne und ihre drei Hunde zu sehen sind, und ich vergesse nie, ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren: Es ist der 7. Oktober, der Gründungstag der DDR, in der wir aufgewachsen sind.

Als ich ihr in diesem Jahr alles Gute wünsche und frage, wie es ihr geht, schreibt sie zurück, dass sie seit einem Jahr ihre Eltern in Deutschland nicht gesehen habe.

Anke hatte ein großes Haus und ein großes Auto wie die Vorstadtmütter in ihrer amerikanischen Nachbarschaft, aber im Herzen war sie immer Deutsche geblieben.

Anke, muss man wissen, hat ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren, als sie die amerikanische annahm. Es war ein Versehen, sie dachte, sie habe automatisch beide Staatsbürgerschaften, sie wusste nicht, dass man einen „Beibehaltungsantrag“ ausfüllen musste. Dieser vergessene Antrag war immer ein Makel, ein Fluch in ihrem sonst so erfolgreichen Leben. Anke hatte zwar einen guten Job an der Universitätsklinik, ein großes Haus und ein großes Auto wie die Vorstadtmütter in ihrer Nachbarschaft, aber im Herzen war sie, die Amerikanerin, immer Deutsche geblieben, machte Sommerurlaub an der Ostsee, feierte ihre Hochzeit in Brandenburg, schickte ihre Söhne in deutsche Ferienlager.

Deutschland war ihre Heimat, aber nun, in der Corona-Krise, war der Weg dahin abgeschnitten, brach ihr binationales Familienkonzept zusammen, das „Versehen“ schränkte ihr Leben auf eine Art ein, wie sie es nie für möglich gehalten hatte und offenbarte eine Seite an ihr, die ich nicht kannte.

„Bürokraten“ würden den Common Sense zerstören, den gesunden Menschenverstand, schreibt sie mir. Es sei „echt traurig“, was diese „Demokratie“ zulasse. Flüchtlinge hätten mehr Aussicht auf legalen Aufenthalt als sie, „die gebürtige Deutsche“. „Es ist zum Kotzen, ehrlich.“

Anke war immer sehr direkt, ich mag das an ihr, aber diesmal ist es mehr, ist es anders, sie klingt nicht wie meine kluge Schulfreundin, sondern wie eine Populistin, Nationalistin, Flüchtlingsgegnerin. Ein bisschen wie Donald Trump selbst.

Ich frage mich oft, wie es kommt, dass Menschen plötzlich Positionen vertreten, die man ihnen nicht zugetraut hätte. Als ich Ankes Worte lese, begreife ich, dass ihre Mail die Antwort sein könnte.

Anke ist nicht typisch für meine amerikanischen Freunde, ganz im Gegenteil. Alle wählen Biden - auch die ostdeutschen. Im Gegensatz zu Anke haben sie die doppelte Staatsbürgerschaft. Uwe aus Ost-Berlin wohnt in Harlem und denkt seit Wochen darüber nach, wann und wo er seinen Stimmzettel abgibt. Aus Angst, Trump könne irgendeinen Trick anwenden und sein Votum für ungültig erklären, wie er sagt. Solveig, die in der Nähe von Dresden aufgewachsen ist und in Brooklyn lebt, in meinem alten Viertel, schickt mir ein Foto von einer langen Schlange vor einem Wahllokal. Es berührt mich, die Straße, die mir so vertraut ist, zu sehen und die Menschen, die - wie immer in Park Slope - fast geschlossen die Demokraten wählen werden.

Solveig sagt, sie werde am Abend der Wahl zu Hause bleiben, ganz ruhig, ganz still, wegen Corona natürlich, vor allem aber deswegen, weil sie bei der letzten Wahl vor vier Jahren mit Freunden Hillary Clintons Wahlsieg feiern wollte und sie den Schock, dass Clinton verlor und Trump gewann, bis heute nicht verwunden habe.

Auch Uwe wird wahrscheinlich zu Hause bleiben und vor dem Fernseher warten und bangen, wie es diesmal ausgeht. Und ich frage mich, ob es Zufall ist, dass sich meine ostdeutschen Freunde in den USA so typisch verhalten. Uwe und Solveig, die New Yorker, wählen die Demokraten, Anke aus Pennsylvania, dem Swing State, wählt die Republikaner. So zumindest klingt es in ihrer Mail.

Sie lässt mir keine Ruhe. Ich schreibe Anke, es tue mir leid, dass sie ihre Eltern nicht sehen könne, ob wir mal reden wollen. Wir verabreden uns über WhatsApp. Anke ist im Auto auf dem Weg zur Arbeit, in ihre Krebsklinik. Sie klingt ruhiger als in ihrer Mail, erzählt von ihren hoffnungslosen Telefonaten mit dem deutschen Konsulat in New York, von ihrem Vater, der gerade 80 geworden sei und eine OP vor sich habe. Sie überlege schon, ob sie einfach ihren abgelaufenen deutschen Pass nehmen und zum Flughafen fahren solle. Es einfach drauf ankommen lassen, etwas tun, irgendetwas.

Wir reden über Corona, über Masken und ich bin froh, dass Anke, die Ärztin, wenigstens keine Corona-Leugnerin ist, wie Trump es war, bis es ihn selbst erwischte. Ich frage sie, wie es ist, so kurz vor den Wahlen. Wen wird sie wählen? Trump oder Biden? Sie lacht und sagt, sie wisse es nicht. Es sei wirklich schwer diesmal. Sie fände Trump scheußlich, aber Biden sei für sie keine Alternative. Am liebsten, sagt sie, würde sie „Frank“ auf den Wahlzettel schreiben, den Namen ihres Mannes. Sie lacht wieder, ihr altes übermütiges Anke-Lachen. Dann muss sie auflegen, sie ist in der Klinik angekommen, ihr Dienst beginnt.

Anke klingt eher wie eine überzeugte Republikanerin. Ich finde das befremdlich, aber mich beeindruckt ihre Ehrlichkeit.

Anja Reich

Als ich später nachfrage, was sie an Biden so stört, schreibt sie erst gar nicht und schickt mir dann gleich eine Liste mit sieben Punkten. Punkt 1: Biden sei seit über 40 Jahren Politiker, sogar schon mal Vize-Präsident gewesen, und habe „außer schönen Reden“ nichts wirklich umgesetzt. Punkt 2: Biden werde die Steuern erhöhen, „um all die Versprechungen zu erfüllen“, und sie arbeite zu schwer, als dass es ihr egal wäre, „irgendwelche staatlich schlecht organisierten Hilfsvereine“ zu finanzieren. So geht es weiter: Angst vor mehr staatlichen Regulierungen, vor einer Rückkehr von Obama-Care, der staatlichen Krankenversicherung („ein totaler Reinfall“), vor Bidens gesundheitlichen Problemen, vor seiner Stellvertreterin „Frau Harris“, der Schwarzen, die doch nur aus strategischen Gründen ausgesucht worden sei.

Anke klingt gar nicht unentschieden, sondern wie eine überzeugte Republikanerin, die dem Sozialstaat nicht vertraut und in schweren Zeiten ihren persönlichen Wohlstand schützen will. Ich finde das befremdlich, aber mich beeindruckt ihre Direktheit, ihre Ehrlichkeit, und ich muss daran denken, was wir damals in der Schule gelernt haben: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Anke, meine Schulfreundin, ist nicht mehr die Anke, an die ich mich erinnere. Ich weiß nur noch wenig von ihr und sie von mir. Sie lebt jetzt seit fast dreißig Jahren in Amerika -länger, als sie in Deutschland lebte - und kann dort nicht mehr weg.

Sie schreibt dann noch, sie werde entweder gar nicht wählen gehen oder für Trump stimmen.