Ein ukrainischer Polizist der Weißen Engel verteilt Hilfsgüter an eine Familie. Die Spezialeinheit riskiert ihr Leben, um in Dörfer und Städte an der Front zu gehen.
Ein ukrainischer Polizist der Weißen Engel verteilt Hilfsgüter an eine Familie. Die Spezialeinheit riskiert ihr Leben, um in Dörfer und Städte an der Front zu gehen. Evgeniy Maloletka/dpa

Blass und schmutzig nach fast einem Jahr in einem Keller kommen Olexij Masurin und seine weinende Mutter ans Tageslicht, begleitet vom Lärm russischen Artilleriefeuers. Ein gepanzerter Kleintransporter der Polizei erwartet die beiden, um sie in Sicherheit zu bringen. Die russischen Angreifer sind nicht weit entfernt von der Stadt Awdijiwka in der Ostukraine, in der jeden Tag Granaten einschlagen, Gebäude verwüsten, Autos zertrümmern und Krater zurücklassen.

Der 15-jährige Olexij mit den braunen Locken, die unter der Kapuze seines Sweatshirts hervorlugen, ist einer der wenigen Jugendlichen, die noch hier lebten. Nur noch 13 Teenager verbleiben, nachdem er mit seiner Mutter Awdijiwka verlassen hat, wie Polizeichef Roman Prozyk sagt. Insgesamt hielten sich noch 2000 Zivilisten in der Stadt auf, die vor Beginn der russischen Invasion Ende Februar 2022 etwa 25.000 Einwohner hatte.

Seit Monaten haben Behörden Zivilisten in umkämpften Gebieten an der Frontlinie aufgerufen, sicherere Gegenden des Landes aufzusuchen. Viele sind dem gefolgt, aber manche – darunter Familien mit Kindern – haben sich beharrlich geweigert. So ist es nun an der Polizei, die noch Verbliebenen zum Weggehen zu überreden. Eine spezielle Einheit, die als „Weiße Engel“ bekannt ist, ist für die Evakuierung von Kindern und älteren Personen aus den gefährlichen Gebieten der von Granaten zerstörten Städte verantwortlich. Sie klopfen unter eigener Lebensgefahr in Dörfern und Städten an Türen, beschwören die Bewohner, sich in Sicherheit zu bringen.

Anfang März hat die Regierung Zwangsevakuierungen aus Kampfgebieten für Familien mit Kindern angeordnet. Demnach müssen Kinder von einem Elternteil oder Vormund begleitet werden. Aber derzeit gilt die Verfügung nur für Bachmut, die stark bedrängte ostukrainische Stadt, um die seit Monaten heftig gekämpft wird. „In Awdijiwka wird diese Regel nicht angewendet“, bestätigt Polizist Gennadi Judin, der den Weißen Engeln angehört. „Wir fahren herum, zu allen Familien. Wir warnen sie, wir informieren sie über die Evakuierung.“

Familien bleiben aus Furcht vor ungewisser Zukunft trotz Beschusses in den Frontstädten

Aber ohne eine Zwangsanordnung sind den Polizisten die Hände gebunden. Ihnen bleibt nichts anderes, als ihre Überredungskünste anzuwenden. Bei Olexijs Mutter Switlana Masurina hatten sie am Ende Erfolg. Aber die Entscheidung, dann doch zu gehen, war hart. „Es ist schwer, wenn du seit deiner Geburt in dieser Stadt gelebt hast“, schildert die 37-Jährige. „Jetzt gehe ich weg, ich weiß nicht wohin, da, wo mich niemand braucht. Ich weiß nicht, wo oder womit ich anfangen soll.“

Masurina hatte sich mit ihrem Partner und Olexij im Keller aufgehalten, sie fürchtete die Bomben weniger als den Abschied von ihrer Heimat, den Weg ins Unbekannte, eine ungewisse Zukunft. Ihr Partner ist auch jetzt noch geblieben, sagt, dass er fürchtet, zum Militär eingezogen zu werden. Sie selbst habe sich nur um ihres Sohnes willen zum Weggehen entschlossen, sagt Masurina. „Ich möchte, dass er ein gutes Leben hat.“

Und das ist in Awdijiwka nicht mehr möglich. Überhaupt am Leben zu bleiben, ist hier zu einem Glücksspiel geworden. Nur Augenblicke bevor die Mutter und ihr Sohn aus dem Keller kamen, wurde ein paar Straßen weiter ein anderer Mietwohnungskomplex aus der Luft getroffen. Die ganze Ecke des Wohnblocks ist weg, reduziert zu Trümmern; Flammen und schwarzer Rauch drangen aus dem Loch, das die Bombe in das 15-stöckige Gebäude gerissen hatte.

Ein ukrainischer Polizist der „White Angels“-Einheit transportiert eine verletzte Frau im Rettungswagen in ein Krankenhaus.
Ein ukrainischer Polizist der „White Angels“-Einheit transportiert eine verletzte Frau im Rettungswagen in ein Krankenhaus. Evgeniy Maloletka/dpa

Als Judin mit einem anderen Weißen Engel den Schaden begutachtete, durchdrang das Heulen anfliegender Artilleriegeschütze die Luft. Sie warfen sich auf die Erde, während der Lärm der Explosion in der zertrümmerten Landschaft aus zerbombten Häusern und zersplitterten Bäumen widerhallte. Als er abebbte, rappelten sie sich auf und machten sich auf den Weg zu Masurinas Wohnkomplex.

Drangen sie am Ende mit ihrem Aufruf bei ihr durch, sind manche Überredungsversuche erfolglos, wie Prozyk, der Polizeichef, sagt. Er schildert Fälle, in denen Familien ihre Kinder verbergen oder die Polizei beschuldigen, ihren Nachwuchs entführen zu wollen.

Bei vielen Bewohnern bleiben Evakuierungsaufrufe ungehört

Das nahe gelegene Dorf Netajlowe liegt praktisch direkt an der Frontlinie, der Lärm von Schüssen dringt über die Felder an den Ausläufern des Ortes. Dennoch gelang es der Polizei nicht, die Familie eines Teenagers davon zu überzeugen, dass es wirklich Zeit sei, zu gehen. „Alles liegen zu lassen, das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Natalja, die Mutter des Jungen, den Polizisten unter Tränen. „Ich möchte einfach sterben. Ich kann nicht ohne ein Zuhause leben.“

Ihr Sohn, der 14-jährige Maxim, erklärte, auch er wolle bleiben, so auch sein Vater Andreij. Natalja hätte am Ende schweren Herzens einer Evakuierung zugestimmt, aber sie wollte sich nicht von ihrem Mann und ihrem Kind trennen. Wieder und wieder versuchte die Polizei, die Familie, die nur ihre Vornamen nannte, zu überzeugen: „Was ist, wenn eine Granate euer Haus zerstört? Was ist, wenn ihr verletzt werdet?“ Natalja antwortete: „Es ist besser, schnell zu sterben.“ Ein Polizist konterte: „Das Leben eines Kindes ist wichtig.“ Das Argument bewirkte nichts.

Maxim stand draußen vor dem Haus seiner Familie, die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen, zum Schutz gegen die Morgenkälte. Er zuckte nicht einmal zusammen, als der Lärm eines explodierenden Artilleriegeschützes die Luft durchschnitt. Niemand zuckte – Bombardements sind zur grausamen Gewohnheit in ihrem Leben geworden.