Kreml-Insider: „Immer mehr Russen verstehen, dass Putins Zeit abgelaufen ist“ – SO könnte er friedlich abtreten
„Er macht Russland zu einem Dritte-Welt-Land“, sagt der Ex-Kreml-Mitarbeiter.

Für Wladimir Putin sollte sein runder Geburtstag auch ein politischer Triumph werden. Längst wollte der russische Präsident die wehrhafte Ukraine, die in die EU und in die Nato strebt, mit seinem brutalen Angriffskrieg als Staat zerstört haben. Doch auch an seinem 70. Geburtstag am vergangenen Freitag (7. Oktober) musste der Kremlchef vor allem die jüngsten Niederlagen verdauen.
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Vor allem aber muss Putin, der Russland nach den chaotischen 1990er Jahren voller Armut wieder auf die Beine brachte, jetzt zusehen, wie nach seinen gut 22 Jahren an der Macht vieles in sich zusammenfällt. Nach mehr als sieben Monaten Blutvergießen und Tausenden Toten auf ukrainischer und russischer Seite gönnte sich der für seine Gefühlskälte bekannte Ex-Geheimdienstchef dem Vernehmen nach ein gutes Essen. Ansonsten werde er arbeiten, hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow angekündigt.
Gerade erst hat Putin vier ukrainische Gebiete unter internationalem Protest völkerrechtswidrig annektiert. Trotzdem kontrolliert Russland die Regionen nicht komplett. Putin entschied sich für die Annexion, um nach monatelangem Kampf endlich ein Ergebnis zu präsentieren. „Der Krieg hätte sonst seinen Sinn verloren“, sagt der Politologe Abbas Galljamow. Als einen Sieg sieht das aber nicht einmal der Kreml.
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„Er ist nicht wahnsinnig, leidet aber unter Kontrollverlust“
Galljamow, der früher selbst im Kreml arbeitete, will Putin nicht als „wahnsinnig“ bezeichnen, bescheinigt ihm aber „Kontrollverlust“. Der Ex-Geheimdienstchef sei nicht mehr Herr der Lage. Putin sei ein Getriebener der Krise in der Ukraine. Er habe seinen Status als „heilige Figur“, als Garant für Stabilität verloren. Sogar mit Russlands Atomwaffen drohte er schon.
Putin spricht von einem „Blitzkrieg“ des Westens gegen Russland. Die stolze Rohstoffmacht steckt wegen des Drucks der Sanktionen in einer massiven Rezession. Tausende Firmen haben das Land verlassen, Zehntausende haben keine Arbeit mehr. Es gebe eine beispiellose „Deindustrialisierung“, sagt Galljamow. „Er macht Russland zu einem Dritte-Welt-Land“, sagt er über Putin. Die Elite des Landes sei in einer „Depression“, weil der schnelle Sieg in der Ukraine fehle. Zu den Niederlagen der Armee komme das Chaos bei der Teilmobilmachung.
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„Putin ist heute der größte destabilisierende Faktor, ein Destabilisator“, meint Galljamow. Russlands Elite verliere jetzt ihren Halt, weil sie sich 22 Jahre auf Putin gestützt habe. Das sei vorbei. Doch Galljamow sagt auch, dass Putins Ressourcen noch gewaltig seien – auch wegen der Ergebenheit des Sicherheitsapparats. Zudem vertrauen viele Russen – vor allem die über 60-Jährigen - ihm weiter, weil sie keinen anderen starken Führer sehen.

„Er macht Russland zu einem Dritte-Welt-Land“
Mit einer Mischung aus Härte gegenüber dem Westen und immer wieder auch demonstrativ menschlichen Augenblicken hat Putin es stets verstanden, Leute für sich einzunehmen. Schon als Teenager galt seine Leidenschaft dem Kampfsport, bis heute präsentiert er sich als Judoka und Eishockey-Spieler oder mit nacktem Oberkörper beim Fischen oder Reiten. Zugleich setzt er sich immer wieder als Tierfreund in Szene, als Retter bedrohter Arten.
Unvergessen ist auch sein Flug mit einem motorisierten Hängegleiter 2012 mit Kranichen. Weil er nach der Landung damals lange mit Rückenproblemen zu kämpfen hatte, machten sich viele schon einmal Gedanken, wie es sein könnte, wenn Putin einmal nicht mehr da ist. Immer wieder wurden ihm seither vor allem durch westliche Geheimdienste Krankheiten und Gebrechen angedichtet. Aber Kremlsprecher Peskow beteuert regelmäßig, Putin sei gesund.
Putins Gegner lasten ihm eine Vielzahl von Verbrechen an. Unter ihm an der Macht führte Russland Kriege gegen Tschetschenien, Georgien, in Syrien und gegen die Ukraine. Viele Kremlkritiker, darunter der frühere Vize-Regierungschef Boris Nemzow, und auch Journalisten wie Anna Politkowskaja und Natalia Estemirowa wurden erschossen. Seit Jahren sieht sich Putin in der Kritik, die letzten Reste der Freiheitsrechte und unabhängige Medien vernichtet zu haben. Er lässt Proteste gewaltsam auflösen und Andersdenkende brutal verfolgen.

„Immer mehr Russen verstehen, dass seine Zeit abgelaufen ist“
Dabei hatte Putin, als sein Vorgänger Boris Jelzin in der Silvesternacht zu 2000 seinen Rücktritt bekannt gab, noch ein demokratisches Russland versprochen. Kritiker sprachen von einer eiskalt eingefädelten Machtübernahme. Und 2020 ließ Putin auch die Verfassung ändern, die ihm einen Verbleib an der Macht bis 2036 ermöglicht, sollte er wieder kandidieren und gewinnen.
Der Politologe Galljamow sagt, dass Putin in seinem Krieg jetzt vor allem darauf setze, dass die Energiekrise sich in Europa weiter zuspitze und damit die Solidarität mit der Ukraine im Westen breche. Wenn Europa bis März nicht „eingefroren“ sei, dann sehe es schlecht aus für Putin – ein Jahr vor der Präsidentenwahl, die 2024 ansteht. Galljamow sieht derzeit angesichts fallender Zustimmungswerte nicht, dass Putin sich einen neuen Sieg verschaffen kann ohne Betrug. Aber Manipulation könne zu einer Revolution führen, betont er.
Galljamow sieht nur einen friedlichen Ausweg: Putin könnte selbst einen Nachfolger benennen, dem er vertraue. Als einen möglichen Kandidaten sieht er Sergej Sobjanin, den Bürgermeister von Moskau. Immer mehr Menschen verstünden, dass Putins Zeit abgelaufen und er klar der Hauptverantwortliche für die Niederlagen der Armee sei. „Wenn er die Ukraine nicht überfallen hätte, dann hätte wohl niemand gemerkt, dass die russische Armee nur ein Papiertiger ist.“