Gedenken im Schatten von Corona
Vor einem Jahr wurde Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet. Wegen der Corona-Krise wird es zu seinem Todestag so gut wie keine Gedenkverstaltungen geben.

In der Nacht zum 2. Juni 2019 war der 65-jährige Regierungspräsident nachts aus nächster Nähe auf der Terrasse seines Wohnhauses im Kreis Kassel mit einem Kopfschuss getötet worden. Als erster mutmaßlich rechtsextrem motivierter Mord an einem Politiker erschütterte die Bluttat die Republik. Äußerungen zur Aufnahme von Flüchtlingen sollen Lübcke zum Verhängnis geworden sein. Gegen den mutmaßlichen Mörder, Stephan E., hat die Bundesanwaltschaft im April Anklage erhoben. Die Ermittler gehen von einer rechtsextremistischen Motivation des Verdächtigen aus. Die Tat soll E. laut Bundesanwaltschaft über Jahre akribisch geplant haben. So habe er seit Mai 2017 mehrfach das Haus des Regierungspräsidenten ausgespäht, zitiert das ZDF-Magazin „Frontal 21“ aus der Anklageschrift.
Rechtsextremist soll Lübcke auf der Terrasse erschossen haben
Wenn sich der Todestag Lübckes nun jährt, wird es voraussichtlich weder Groß-Demos gegen rechts noch öffentliche Gedenkveranstaltungen geben. Angesichts von Kontaktverbot und Hygieneregeln wurde vieles abgesagt oder verschoben. Das Regierungspräsidium Kassel – Lübckes Behörde – plant kein öffentliches Gedenken. Auch die Stadt Kassel verzichtet auf Veranstaltungen. Die hessische Staatskanzlei kündigte eine Kranzniederlegung an – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Das „Kasseler Bündnis gegen Rechts“ mobilisierte bei Demonstrationen nach dem Mord Zehntausend Menschen – angesichts der Corona-Pandemie halten sich die Initiatoren nun ebenfalls zurück. Sie rufen dazu auf, am 2. Juni Blumen vor dem Regierungspräsidium niederzulegen. Zudem erinnert seit Donnerstag ein 200 Quadratmeter großes Banner an der Front des Kasseler Regierungspräsidiums an Lübcke. Es trägt die Aufschrift „Demokratische Werte sind unsterblich“.
Auch Corona-Krise macht Politiker zur Zielscheibe
Die Pandemie behindert nicht nur das Gedenken an Lübcke. Der Demokratieforscher Reiner Becker sieht auch neues Potenzial für Bedrohungen und Übergriffe auf Kommunalpolitiker. „Das Thema Corona-Krise bietet sich stark an, um Angriffe zu rechtfertigen“, erklärte der Leiter des Demokratiezentrums in Marburg. Wenn die Strategie zur Bewältigung der Pandemie mehr und mehr kommunalisiert werde, stünden die Entscheidungsträger vor Ort vor schwerwiegenden Fragen und könnten zur Zielscheibe werden.
„Insgesamt befürchte ich eine Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft mit Blick auf die politisch Verantwortlichen wie in den Jahren 2015/2016 bei der Aufnahme von Flüchtlingen“, erklärte Becker. Bisher gebe es solche Bedrohungen noch nicht. Man könne aber Tendenzen in der Stimmungslage erkennen, Verschwörungstheorien gewönnen an Bedeutung. Das Thema „Bedrohung von Kommunalpolitikern“ war nach dem Mord an Lübcke ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Denn der Regierungspräsident hatte Morddrohungen erhalten, nachdem er sich 2015 bei einer Bürgerversammlung für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt hatte. Das soll nach Ansicht von Ermittlern auch ein Grund gewesen sein, der letztlich E. zum Mord bewegte.
Die Bluttat setzte eine Debatte über die Bekämpfung von rechtsextremen Strukturen in Gang, Ermittlungsbehörden erhöhten den Druck. So gründete Hessen nach dem Mord eine spezielle Ermittlungsgruppe, die „Besondere Aufbauorganisation Hessen R“, die mit 140 Ermittlern die rechte Szene untersucht und überwacht. Über 80 Durchsuchungen, 2000 Sicherstellungen mehr als 1200 Kontrollen seien Ergebnisse der monatelangen Arbeit, sagte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU).
Hass-Postings im Fokus der Behörden
Angesichts des Hasses, der Lübcke auch nach seinem Tod im Internet entgegenschlug, stehen auch Hass-Postings im Fokus: Über die neu geschaffene Meldestelle hessengegenhetze.de können beispielsweise rassistische Äußerungen an Polizei, Verfassungsschutz und Justiz gemeldet werden. 1300 Meldungen sind laut Beuth bisher geprüft worden, 339 erfüllten Straftatbestände. Sie seien an die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) in Frankfurt weitergegeben worden.
Ein Rückgang rechter Straftaten ist aber nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Das Landeskriminalamt Hessen registrierte in den sechs Monaten nach dem Lübcke-Mord 424 Fälle, im Vorjahreszeitraum waren es 284 gewesen.