Belarus
Frauen, Gewalt, Verzweiflung, Hoffnung
Thomas Weiler, der aus dem Belarussischen und dem Russischen übersetzt, zum Stand der Dinge im kleinen Land des Aufruhrs

Foto: imago/ITAR-TASS/Natalia Fedosenko
Revolution. Mit diesem Roman macht der Autor Viktor Martinowitsch gerade in Deutschland bekannt: Es gibt belarussische Schriftsteller. Der Titel scheint wie gemacht für die Zeiten des Aufruhrs in dem kleinen Land zwischen Polen und Russland. Ins Deutsche übersetzt hat ihn Thomas Weiler. Von seinem Wohnort bei Leipzig aus versucht der Übersetzer (42), sich Klarheit über die Lage in Belarus zu verschaffen. Ein Gespräch mit ihm über Frauen, Literatur, Gewalt und Hoffnung.
Herr Weiler, Sie übersetzen aus dem Belarussischen, Russischen und Polnischen. Haben Sie wegen der Vorgänge in Belarus gerade mehr zu tun als früher?
Nicht so sehr beim Übersetzen, weil Literatur Zeit braucht, um zu reagieren. Ich habe mehr damit zu tun zu verfolgen, was in Belarus geschieht, zum Beispiel über unabhängige Medien in Belarus, die mit massiven Einschränkungen zu kämpfen haben. Ich muss herausfinden, wer Informationen hat, und prüfen, was verlässliche Quellen sind. Ich kommuniziere viel mit Kollegen und Autoren und nutze auch soziale Medien, was ich bislang eher vermieden habe. Einen Teil meiner Zeit muss ich zudem unseren drei Kindern im Homeschooling widmen.
Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 ist Belarus wegen der Demonstrationen und ihrer gewaltsamen Niederschlagung erst ins deutsche Bewusstsein gedrungen. Was hat sich dort vor und nach der Wahl verändert?
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Es gab dort schon immer politische Menschen, die versuchten, etwas zu verändern, für politische Freiheit und für Freiheit im Denken, Schreiben und bei ihrem künstlerischen Arbeiten einzutreten. Das waren aber immer nur kleine, versprengte Gruppen von Intellektuellen oder Nationalisten. Wenn es ein Aufbegehren gab, wurde es zusammengeknüppelt und fiel schnell in sich zusammen – so wie die Aufmerksamkeit im Ausland. Das hat sich geändert. Den Protesten haben sich die Hochschulen und sogar Vertreter des Regimes angeschlossen. Streiks in den staatlichen Unternehmen waren früher vollkommen unvorstellbar.

Wie konnte es dazu kommen?
Der Protest hat die gesamte Gesellschaft erfasst, weil sich das Gefühl ausbreitete, es könne etwas gelingen im Kampf gegen den Präsidenten Alexander Lukaschenko und seinen Apparat, der ihn seit 1994 an der Macht hält. Es entwickelten sich Euphorie und der Gedanke, ,Wir sind so viele, es muss klappen‘. Das Regime hat sich durch seine Gewalt derartig diskreditiert, dass es keine Zukunft hat.
Sie haben das Buch „Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution“ mit herausgegeben, eine Konsequenz aus dem großen Anteil der Frauen an den Demonstrationen und an der Spitze der Demokratiebewegung. Wie kam es dazu?
Das begann schon vor der Wahl. Das Regime hatte zur üblichen Methode gegriffen und Gegenkandidaten Lukaschenkos eingesperrt. Nur so kam es dazu, dass Swetlana Tichanowskaja (die mutmaßlich die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, d. Red) für ihren Mann als Kandidatin auftrat. Sie wurde zur Wahl zugelassen, weil das Regime Frauen nicht ernst nahm. Am Anfang der Demonstrationen waren Polizei und OMON auch noch relativ zurückhaltend gegenüber demonstrierenden Frauen. Das hat sich später geändert.
Haben wir da eine feministische Bewegung gesehen?
Am Anfang nicht, und es gibt nur wenige Feministinnen mit Westeuropa-Erfahrung wie die Führungsfigur Maria Kolesnikowa, die in Haft ist. Viele Frauen sind auf die Straße gegangen, weil die Männer in Haft genommen worden waren, in der Erwartung, die Einsatzkräfte würden mit ihnen nicht so umgehen. Sie haben Menschenketten gebildet und sich zu „Spaziergängen“ getroffen, um zu zeigen: „Wir sind da, wir sind friedlich, wir nehmen den Platz der Männer ein.“
Das zeugt von viel Mut.
Die Stimmung war auch begleitet von der Furcht vor einem Blutbad oder ob Russland eingreift. Das Regime hat ja deutlich gemacht, dass es nicht zurückweichen will, es gab Tote und unzählig viele Menschen wurden ins Gefängnis gesteckt. Jetzt gibt es die Sorge „Wir halten es nicht durch“. Menschen werden unter fadenscheinigen Gründen festgenommen, von der Euphorie ist nicht viel übrig geblieben.
Die Demonstrationen wurden kleiner, es gibt weniger Berichte aus Belarus, es gibt Schwanengesänge für die Revolution. Ist die Zeit der Resignation angebrochen?
Ich denke, dass der Staat nur so tun kann, als ginge es so weiter wie in den vergangenen Jahrzehnten, indem er den Protest zusammenknüppelt. Bei den nächsten Schwierigkeiten wird der Unmut wieder aufflammen. Es sind so viele durch die Gefängnisse gegangen, jeder kennt einen direkt Betroffenen. Es gibt auch Entwicklungen, die Anlass für Optimismus geben.
Als da sind?
In Deutschland wird kaum wahrgenommen, dass sich um Swetlana Tichanowskaja in ihrem litauischen Exil viel Kompetenz gesammelt hat, Menschen, die Belarus neu denken, beispielsweise an einem neuen Bildungssystem arbeiten. Der Koordinierungsrat, dessen Mitglieder entweder in Haft oder im Ausland sind, hat auch konzeptionell gearbeitet.
Der Aufstand hat bei Exil-Belarussen in Deutschland und bei den Deutschen eine neue Wahrnehmung geschaffen. Das Land war dafür nur mit wenigen Negativ-Stereotypen bekannt: Diktatur, Wahlfälschung, Tschernobyl. Jetzt zeigt sich, dass es mehr ist, und Belarussen in Deutschland, die meistens als Russen wahrgenommen worden waren, geben sich zu erkennen.
Hat das Folgen für die Wahrnehmung der Belarussen, ihres Landes und ihrer Literatur?
Es gibt ein gewachsenes Interesse an Mittelost- und Osteuropa. Das habe ich bei Lesungen bemerkt, die jetzt allerdings nicht stattfinden können. Es ist wenig bekannt, man kann nichts voraussetzen. Die Leser in Deutschland stellen aber fest, dass Autoren aus dem Osten Europas etwas zu sagen haben. Was die Literatur angeht, gibt es in Belarus leider keine staatlichen Institutionen, die es sich wie in Polen, Russland oder Tschechien zur Aufgabe machen, ihre jeweiligen Schriftsteller im Ausland bekannt zu machen.
„Revolution“ von Viktor Martinowitsch aus dem Verlag Voland & Quist kostet 24 Euro, unter fussnoten.eu findet man ein Übersetzungsjournal Weilers.
„Mordor kommt und frisst uns auf“ von Ziemowit Szczerek aus demselben Verlag kostet 20 Euro.
Wie sind sie als gebürtiger Baden-Württemberger dazu gekommen, Sprachen von Ländern östlich von Deutschland zu lernen?
Ich war als 16-jähriger Schüler in einem Workcamp in Belarus und stellte fest, dass ich so gar keine Ahnung hatte, wie gerade Jugendliche dort leben. Ich wollte einen Einblick in eine fremde Welt. Dafür ist die Sprache nötig. 1998 bis 1999 habe ich dann meinen Zivildienst in Minsk in einem Heim für behinderte Erwachsene absolviert. Die drei genannten Sprachen habe ich unter anderem in Leipzig studiert.
Zuletzt haben Sie „Revolution“ des Belarussen Martinowitsch übersetzt. Hatten Sie da so viel Spaß wie bei „Mordor kommt und frisst uns auf“ des polnischen Autors Ziemowit Szczerek, der darin eine ziemlich zugedröhnte Reise durch die Ukraine schildert?
Bei „Mordor“ hatte ich mehr Spaß, weil da ein wenig auch mein Leben gespiegelt wird. Bei „Revolution“ habe ich sehr gekämpft, weil es ziemlich harte Kost ist und fast alle Figuren unsympathisch sind. Das Buch spielt in Russland und zeigt, dass jemand unter die Räder kommt, wenn er seine Ideale aufgibt. Man denkt die ganze Zeit, die Hauptperson müsse als Intellektueller doch die Mechanismen durchschauen, denen er erliegt. Das ist schon deprimierend. Es war aber reizvoll, dass ich beim Übersetzen Anspielungen und Bezüge auf Literatur und geschichtliche Ereignisse entdeckt habe und mir Gedanken machen musste, was ich daraus im Deutschen mache.
Worauf freuen Sie sich?
Eines der ersten Bücher, die ich aus dem Belarussischen übersetzt hatte, stammte von Alherd Bacharevič. Jetzt fange ich mit seinem neuen Roman „Hunde Europas“ an, es wird viel Arbeit, es hat rund 900 Seiten und ist teilweise in einer Kunstsprache verfasst. Bacharevič ist einer der wichtigsten Autoren aus Belarus. Er hat es dort auch nicht mehr ausgehalten und lebt jetzt in Graz.