Franziska Giffey: Stürzt die Hoffnungsträgerin der SPD?
Nachdem die Familienministerin ihren Doktortitel abgelegt hat, ist die Diskussion über einen Rücktritt in vollem Gange

Am späten Freitagabend ist die Welt für Franziska Giffey wieder im Lot. In einer Telefonschalte hat sie dem Landesvorstand der SPD erklärt, warum sie auf ihren Doktortitel verzichtet. Sie wolle damit Schaden abwenden, hat sie gesagt. Von ihrer Familie. Von ihrer politischen Arbeit. Von ihrer SPD. So hat sie es am Nachmittag bereits in einem Schreiben an die Freie Universität Berlin geschrieben. Es ist ein Opfer.
Die Genossinnen und Genossen danken es mit Solidaritätsbekundungen und schließen die Reihen gegen Kritiker. So antwortet die Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen auf einen Tweet der Grünen-Abgeordneten Renate Künast bissig: „Solidarität unter Frauen. So wichtig.“ Künast hatte es gewagt, darauf hinzuweisen, dass die Rückgabe des Doktortitels die Freie Universität Berlin nicht davon entbinde, die Arbeit zu prüfen. Das gibt einen Vorgeschmack auf künftige Auseinandersetzungen.
Eine der beliebtesten Ministerinnen
Heilige Franziska statt Doktor Giffey – so könnte das neue Narrativ aussehen, mit dem die Berliner SPD in den Wahlkampf im nächsten Jahr geht. Franziska Giffey selbst hat dem Ganzen diesen Spin gegeben. Zu retten ist: ihre Karriere.
Franziska Giffey, 42 Jahre alt, stets adrett unterwegs und stabil glänzend gelaunt, ist Bundesfamilienministerin und nach Umfragen eines der beliebtesten Mitglieder im Kabinett von Angela Merkel. Bis vor kurzem ging es für sie immer nur steil nach oben.
Giffeys erster härterer Rückschlag
Die Querelen um ihre Doktorarbeit über „Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft“ sind der erste härtere Rückschlag, mit dem sie zu kämpfen hat. Vielleicht hat sie sie deshalb unterschätzt. Vielleicht hat sie deshalb auf das Prinzip „Aussitzen“ gesetzt. Stur bleiben, nicht zucken, einfach weitermachen. Während andere Politiker in dieser Situation ihren jeweiligen Titel zumindest ruhen ließen, beharrte Giffey weiter auf ihrem Doktor der Politikwissenschaft und darauf, dass sie sich nichts vorzuwerfen habe.
Einer in der SPD, der ihr sehr gewogen ist, sagt, es gebe nur zwei Arten von Politikern: jene, die es schaffen, Fehler einzuräumen, und jene, die nie einen Fehler einräumen, auch wenn sie welche machen. Es sieht ganz so aus, als gehöre Giffey zu den Letzteren. Ob sie damit Erfolg haben wird, ist noch nicht ausgemacht. Ihre Wähler lernen sie jetzt von einer nicht mehr ganz so strahlenden Seite kennen.
Sie gilt noch immer als potenzielle Retterin
Für die ermattete Hauptstadt-SPD ist Franziska Giffey aber immer noch eine potenzielle Retterin. Sie soll in zwei Wochen den bisherigen Landesvorsitzenden Michael Müller ablösen – im nächsten Jahr dann auch als Regierende Bürgermeisterin. Als sie 2018 sensationell von der Bezirksbürgermeisterin zur Bundesministerin aufstieg, waren auch in der eigenen Partei viele erst einmal skeptisch. Doch die Newcomerin behauptete sich. Die packt an, heißt es. Und es stimmt ja auch. Giffey ist zum Beispiel die erste Bundespolitikerin gewesen, die unmittelbar nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen im Jahr 2018 nach Chemnitz fuhr. Und auch später wiederkam, für Demokratieprojekte warb und mit den Leuten vor Ort sprach. Für viele Menschen verkörpert sie eine neue Glaubwürdigkeit in der Politik.
Die Ankündigung der Freien Universität (FU) Berlin vom vorletzten Freitag ist daher ein schwerer Schlag für sie. Das Präsidium will die Rüge aufheben, die sie ihr vor einem Jahr für die Unregelmäßigkeiten in ihrer Doktorarbeit ausgesprochen hat. Man ist mittlerweile nicht mehr der Meinung, dass es sich hier nur um einem minderschweren Fall handelt. Die Arbeit soll von neuem geprüft werden. Giffey hatte immer wieder betont, dass sie sich nichts vorzuwerfen und die Arbeit „nach bestem Wissen und Gewissen“ verfasst habe. Doch nun scheint das sogar ihre eigene Universität nicht mehr zu glauben.
SPD-Genossen sind irritiert
Franziska Giffey selbst sagt erst einmal fast nichts dazu. Sie kann überschwänglich sein, aber, wenn nötig, auch sehr knapp angebunden. Einer Zeitung erklärt sie, dass sie gelassen auf das weitere Verfahren blicke. Das war’s. Den Sonntag nach der Ankündigung, die wie eine Drohung klingt, verbringt sie mit frühzeitiger Weihnachtsbäckerei. Ihren elfjährigen Sohn wird es gefreut haben.
Aber auch ihre Follower auf Facebook lässt sie daran teilhaben: „Heute Sonntagsbacken: die ersten Lebkuchen in diesem Jahr. Verzierung folgt ... schönen Abend für alle“, schreibt sie unter ein Bild mit Plätzchen aus der heimischen Küche. 637 Likes bekommt sie dafür, unter anderem auch von Raed Saleh, mit dem Giffey die Berliner SPD führen will. Andere Genossen sind, vorsichtig ausgedrückt, irritiert. Kontakte zwischen Landespartei und künftiger Spitzenkandidatin hat es bislang nicht gegeben. Und die Kandidatin bäckt Plätzchen. Eine stille Biedermeier-Provokation.

FU: Geheimhaltung statt Transparenz
Franziska Giffey hat Glück, der große Skandal-Aufschrei im Titel-Casus bleibt aus, andere Themen stehen im Vordergrund. Die Ankündigung, ein Covid-19-Impfstoff könnte möglicherweise bald zugelassen werden, überlagert am Montag alles. Und dann gibt es noch den entfesselten Donald Trump. Geht es um die Doktorarbeit, gerät erst mal die FU in die Schusslinie.
Kein Wunder: Die Hochschulgremien scheinen tatsächlich mit dem Verfahren überfordert gewesen zu sein. Statt Transparenz war oberste Geheimhaltung die Devise. Der Pressesprecher des Präsidenten beantwortet grundsätzlich nur schriftlich eingereichte Fragen und die meisten davon mit dem Hinweis, das könne man gar nicht oder noch nicht sagen. Bis heute ist unbekannt, wer eigentlich in dem Gremium saß, das Giffeys Doktorarbeit prüfte und dann mit der harmlosen Rüge belegte.
Nachfrage der Berliner Zeitung abgelehnt
Auch die nächsten Tage verlaufen gut für Franziska Giffey. Gleich dreimal tritt sie vor die Hauptstadtpresse, um große Projekte vorzustellen. Es geht um den Schutz vor häuslicher Gewalt, den neuen Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung und am Freitag dann um die ersten Ergebnisse der Konzertierten Aktion Pflege, ein eher sperriges Thema. Auch hier rockt sie wieder den Saal und schafft es einmal mehr, Aufbruchsstimmung zu vermitteln.
Schon so viel ist auf diesem schweren Weg geschafft, schwärmt sie und dankt „dem Hubertus“ und „dem Jens“ für die Zusammenarbeit. Dabei macht sie den Arbeits- und den Gesundheitsminister quasi im Vorbeigehen sehr freundlich zu Statisten. Es ist eine gute Woche für die Ministerin. Doch dann holt die Misere um die Doktorarbeit sie wieder ein. Ganz am Ende der Pressekonferenz fragt die Berliner Zeitung sie danach, wie sie in der Angelegenheit weiter verfahren wird. Giffey antwortet ausweichend, sagt, der Respekt vor ihrer Universität gebiete es ihr, sich erst dort zu erklären. Eine Nachfrage zum Thema lässt sie nicht zu.
„Um weiteren Schaden abzuwenden“
Die Pressekonferenz endet gegen 14 Uhr. Etwa eine Stunde später ruft Giffey einige Vertraute aus der Berliner SPD zu einer Telefonkonferenz zusammen. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller gehört nicht dazu. Sie erklärt, dass sie ihren Doktortitel ablegen werde. Kurz danach erhält die Freie Universität einen Brief und zur gleichen Zeit auch einige ausgewählte Medien. Darin erklärt Giffey, dass sie den Titel Dr. rer. pol. „ab sofort und auch zukünftig“ nicht mehr führen werde. Sie tue dies, um „weiteren Schaden von meiner Familie, meiner politischen Arbeit und meiner Partei abzuwenden“.
Dann folgt ein Satz, der ihr so wichtig ist, dass sie ihn noch einmal handgeschrieben in ihrem Facebook-Profil veröffentlicht: „Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet.“ Es wird sich erst in den nächsten Tagen und Wochen zeigen, ob diese Erklärung nicht viel zu spät kommt.
AfD und Buschkowsky äußern sich
Die Berliner SPD zumindest reagiert erst einmal erleichtert. Manche bauen sogar schon für den schlimmeren Fall vor. Ein Rücktritt als Bundesministerin müsse nicht automatisch Franziska Giffeys Abschied von ihren Berliner Ambitionen bedeuten. „Es steht völlig außer Frage, dass sie Spitzenkandidatin werden kann“, sagt Sven Kohlmeier, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion. Jeder müsse das Recht haben, sich zu rehabilitieren, am Ende sollten die Wähler entscheiden. Und da, so Kohlmeier, sei er ganz sicher: „Das ist unglücklich gelaufen – aber Franziska Giffey wird die erste Regierende Bürgermeisterin werden.“
Andere äußern sich zurückhaltender, wollen aber keinesfalls zitiert werden. Auch die Vertreter von Grünen und Linken bleibe ruhig. Kein offizielles Statement von ihnen. Man will abwarten. Nur aus den Reihen der AfD wird umgehend Giffeys Rücktritt als Ministerin gefordert. Und auch ihr Vorgänger im Amt des Bezirksbürgermeisters von Neukölln, Heinz Buschkowsky, urteilt, dass es für Giffey nun viel zu spät sei, um aus der Sache noch mit Anstand herauszukommen. Er ist aber ohnehin nicht gut auf sie zu sprechen.
Erste Rücktrittsforderungen werden laut
Am Sonnabend gibt es die ersten Rücktrittsforderungen, die gewichtiger sind. Sie kommen von der Bundesebene. Wolfgang Kubicki, FDP-Politiker und Bundestags-Vizepräsident, erklärt in der Bild-Zeitung, dass Giffeys Schritt sie nicht erlöse. Nach wie vor müsse geklärt werden, ob sie in ihrer Doktorarbeit geschummelt habe: „Stellt sich heraus, dass sie getäuscht hat, bleibt ihr nur der Rücktritt.“
Auch in der CDU verfolgt man Giffeys Fall aufmerksam. Dort ist man sich offenbar nicht sicher, ob die FU das Prüfverfahren nun überhaupt zu Ende führt. Das sei jedoch im Interesse der Allgemeinheit. Es gehe dabei auch darum, ob die FU, immerhin eine der Exzellenzuniversitäten, richtig gearbeitet habe oder ein Auge zudrücken wollte, heißt es aus dem Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Bundeszentrale.
Giffey hatte lange keine Basis in der Partei
„In der Causa Giffey ist im Interesse der Integrität unseres Wissenschaftssystems eine abschließende Überprüfung und Bewertung unerlässlich“, sagt die Vorsitzende des CDU-Bundesfachausschusses Bildung, Forschung und Innovation, Karin Prien, am Sonnabend. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, müsse die SPD ihre moralischen Maßstäbe für wissenschaftliche Plagiate wie in der Vergangenheit auslegen, heißt es weiter. Damit sind die Fälle der CDU-Politiker Theodor zu Guttenberg und Annette Schavan gemeint. Beide hatten nach ähnlichen Vorwürfen erst ihre Doktortitel und dann ihre Ämter aufgeben müssen. Die entsprechenden Zitate der SPD von damals werden am Wochenende in den sozialen Netzwerken eifrig geteilt.
In der SPD gibt es einige, die die politische Debatte um Giffey durchaus mit Unbehagen sehen. Was für sie noch gefährlich werden kann. Sie ist beliebt, allerdings vor allem außerhalb der Partei. Innerhalb der SPD hatte Giffey lange keine Basis. Als sie 2018 von der Bezirkspolitikerin zur Bundesministerin aufstieg, wurde sie nicht etwa von ihrem Landesvorsitzenden Michael Müller protegiert. Es waren Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern – wie Giffey in Frankfurt an der Oder geboren – und Dietmar Woidke aus Brandenburg, die sich für sie starkmachten. Giffey hatte die Berliner Landesebene einfach übersprungen, das fanden auch nicht alle gut.
Müller gilt als Gesicht des Niedergangs
Derzeit ist die Hauptstadt-SPD vor allem mürbe. Mürbe von einem Streit, den sie schon so lange führt. Seit Jahren machen sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller und der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh gegenseitig das Leben schwer. Nach vier Jahren rot-rot-grüner Koalition gilt Müller als Gesicht des Niedergangs. Mit ihm, so sagen viele Sozialdemokraten, verlören sie bei der Wahl im nächsten Jahr das Rote Rathaus.
Franziska Giffey soll als eine Art Anti-Müller die Situation retten. Dann, so glauben selbst Sozialdemokraten aus dem Müller-Lager, könnte es doch noch einmal klappen, könnte die SPD auch den nächsten Senat anführen. Die Ernennung Giffeys zur Spitzenkandidatin galt deshalb lange als reine Formsache. Doch in den vergangenen Tagen ist Franziska Giffey von der Hoffnungsträgerin zur Wackelkandidatin geworden.