Ein Minderjähriger winkt aus dem vergitterten Zellenfenster der Jugendstrafanstalt Berlin-Plötzensee.
Ein Minderjähriger winkt aus dem vergitterten Zellenfenster der Jugendstrafanstalt Berlin-Plötzensee. dpa/Kremming

Jedes Kapitalverbrechen stellt uns vor quälende Fragen; umso schwieriger gestaltet sich die Suche nach Antworten, wenn Täter und Täterinnen Kinder sind, wie im Fall der getöteten Lena (10) aus Wunsiedel oder der offensichtlich von Mitschülerinnen ermordeten Luise (12) aus Freudenberg. Angesichts vieler Berichte über schockierende Fälle von Jugendgewalt und emotionaler Debatten in sozialen Medien verstärkt sich die Erwartung an die Politik, zu handeln. Die Forderung, die immer wieder aufflammt, ist: Täter hart zu bestrafen – eine der einfachen Antworten auf komplexe Fragen, die stets mit der Kritik an einer angeblichen „Kuscheljustiz“ verbunden ist.

In den USA können sogar Sechsjährige verurteilt, Jugendliche hingerichtet werden. Abschreckend wirkt es nicht

Warum müssen sich eigentlich Kinder unter 14 Jahren für ihre Taten nicht strafrechtlich verantworten? In anderen Ländern gibt es eine Strafmündigkeitsregelung wie in Deutschland nicht: Im US-Bundesstaat North Carolina müssen sich Kinder bereits im Alter von 6 Jahren strafrechtlich verantworten, landesweit ist die Strafmündigkeits-Grenze für Kriminalität auf 11 Jahre festgelegt. Jugendliche können sogar hingerichtet werden. Abschreckende Wirkung hat es nicht, im Gegenteil häufen sich Nachrichten von tödlichen Amokläufen in Schulen und schwersten Gewalttaten. Jedes 10. Kind, das vor dem 19. Lebensjahr stirbt, wurde Opfer eines Tötungsdeliktes. Viele der Täter waren selbst minderjährig.

In Deutschland kam die Justiz sowohl in Ost als auch in West in den 50er-Jahren zu dem Schluss, die Strafmündigkeit für Heranwachsende auf 14 Jahre anzuheben. Das Jugendgerichtsgesetz der DDR kam 1952 einer entsprechenden Reform in der BRD zuvor, indem sie das Ziel formulierte, „die jungen Menschen zu selbständigen und verantwortungsbewussten Bürgern des demokratischen Staates ... zu erziehen“. Auch für ältere Heranwachsende sah das DDR-Gesetz, zumindest auf dem Papier, Milde vor: Erziehungsmaßnahmen sei der „Vorzug vor der Strafe einzuräumen und eine Strafe nur zu verhängen, wenn der Zweck des Gesetzes nicht anders zu erreichen ist“. Wie die harte Realität in sogenannten Jugendwerkhöfen aussah, wissen gelernte DDR-Bürger besser.

Im Dritten Reich wurde die Strafmündigkeit von Kindern abgesenkt – zum „Schutz des Volkes“

Bereits in der Weimarer Republik war die Strafmündigkeit auf 14 Jahre angehoben worden, später unter dem Nazi-Regime mit einer bemerkenswerten Begründung wurde sie wieder abgesenkt: Auch 12- und 13-Jährige galten als schuldfähig, „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert“. Abgesehen von der völkischen Argumentation fällt das Naheliegende auf: Es gab offenbar zu jeder Zeit ein Problem mit schwerer Jugendkriminalität bis hin zu Kapitalverbrechen, schon in der Kaiserzeit und später im Dritten Reich, wo man meinte, mithilfe von härtester Bestrafung das Volk vor kriminellen Kindern schützen zu müssen.

Das sollten sich Leute vor Augen führen, die heute eine harte Bestrafung von Minderjährigen fordern: Es geht nicht um ein neues Phänomen, sondern um erschütternde Taten, die schon unsere Urgroßeltern vor dieselben Fragen stellten. Wollen wir sie so beantworten, wie es Juristen im Dritten Reich taten, oder sollten wir doch eher die drängenden Fragen stellen: Wird genug getan, um Kindern aus verwahrlosten Verhältnissen Richtung und Halt zu geben?

Konsequenz aus dem Fall Wunsiedel: Keine Toleranz für Vernachlässigung und Wegschauen

Ist es uns das Geld wert, Personal in Heimen und Jugendeinrichtungen angemessen für die wichtige Arbeit zu bezahlen, um Kindern Orientierung zu geben; sind wir bereit, nicht länger wegzuschauen, wenn Eltern überfordert und abwesend sind, wenn Kinder in Gewalt und gruppenverstärkte Kriminalität hineingleiten?

Auch wer nicht bereit ist sich damit auseinanderzusetzen, wird akzeptieren müssen damit zu leben: Jugendkriminalität hat es schon immer gegeben, sie wird nicht durch abschreckende Strafen verschwinden, aber es könnte helfen, wenn wir als Gesellschaft das Signal setzen: Niemand ist weniger wert, nur weil er aus „schwierigen“ Verhältnissen kommt. Es gibt keine Toleranz für Gewalt, Ausgrenzung und Mobbing – das zu verinnerlichen und verstehen zu lernen, dafür gibt es kein Mindestalter. Vermitteln und vorleben müssen es den Kindern allerdings Erwachsene.