Polen, der „Stabilitätsanker“ für Berlins Wirtschaft
Erst Polenmarkt, dann Boom: Warum unser Nachbar aufholt
Der Handel Deutschlands mit Polen ist fast dreimal so umfangreich wie mit Russland

Es war ein klassischer Spott: „Polnische Wirtschaft“ stand für Armut, Durcheinander, Ineffektivität. Einen ersten Eindruck, dass mehr dahintersteckt, bekam Berlin vor gut 30 Jahren, als viele, viele Polski Fiat in der Stadt ankamen, Menschen auf der Brache am Potsdamer Platz Kleidung, Wodka, Wurst oder Krimskrams feilboten. Dank des im Vergleich zur D-Mark praktisch wertlosen Złoty konnten sie durch das Eintauschen der D-Mark dort schnell einen polnischen Monatslohn erwirtschaften. Das ist jedoch in jeder Hinsicht lange her: Polen ist inzwischen der fünftgrößte Handelspartner Deutschlands, der viertgrößte Berlins. Die Industrie- und Handelskammer der Hauptstadt sieht Polen als „Stabilitätsanker“ für die Berliner Wirtschaft in der Corona-Krise.
Der polnisch-deutsche Handel umfasste 2020 rund 123 Milliarden Euro, fast drei Mal mehr als der russisch-deutsche und gegenüber den nicht einmal vier Milliarden 1990 nachgerade astronomisch gestiegen.
Bei den Lieferungen nach Deutschland (aus Polen im Umfang von 58,1 Milliarden Euro) kamen nur mehr Waren aus China, den Niederlanden und den USA als aus Polen. Bei deutschen Exporten lag Polen mit 64,7 Milliarden Euro auf dem 6. Platz. Italien und Österreich wurden 2020 überholt.
Das erscheint wundersam. Der Wirtschaftswissenschaftler und Deutschland-Experte Prof. Dr. Sebastian Płóciennik vom Polnischen Institut für Internationale Zusammenarbeit (PISM) in Warschau meint aber, man hätte schon 1988 ahnen können, welchen Aufschwung die polnische Wirtschaft nehmen würde. Damals öffnete die kommunistische Regierung die Grenzen nach Westen, die Menschen fingen an, Geschäfte auf den deutschen „Polenmärkten“ zu machen.
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„Seinerzeit hat sich ihre unternehmerische Energie gezeigt, die Polenmärkte waren kein Zufall.“ Er gibt aber auch zu bedenken, dass damals niemand die Entwicklung vorhersehen konnte, angesichts von Hyperinflation und chaotischer Mangelwirtschaft in Polen. Auch er habe sich als junger Mann in Zielona Góra über die Öffnung gefreut, aber ohne viel Hoffnung auf eine blitzschnelle Besserung, deren Grundstein nach dem Ende des Kommunismus mit brachialen wirtschaftsliberalen Reformen gelegt wurde.
Einen Schub hätten die ohnehin wachsenden polnisch-deutschen Handelsbeziehungen 2004 mit dem EU-Beitritt Polens erfahren, die Verbindungen der beiden Länder seien verstärkt worden. Paradoxer Weise kam der nächste Schub mit der Finanzkrise von 2008 an. Płóciennik: „Polen hat kaum unter ihr gelitten. Das haben die Deutschen gesehen, ihre Firmen suchten einen sicheren Ort für Investitionen, und fanden Polen deutlich besser als Südosteuropa.“ Inzwischen sind rund 5500 deutsche Firmen östlich von Oder und Neiße tätig.
Die Entwicklung habe in Deutschland dazu geführt, dass man Polen mehr Respekt entgegengebracht und es nicht nur als Billiglohnland gesehen habe. In Polen wiederum sei Stolz über die geleistete harte Arbeit aufgekommen, über die Reformen und die eigene Flexibilität. Dynamische Märkte, mit schwachen Gewerkschaften, kurzfristigen Arbeitsverträgen und vielen Scheinselbstständigen hatten aber auch einen sozialen Preis.
Arbeitslosigkeit hat stark abgenommen
Er war jedoch einfacher zu ertragen, als die Arbeitslosigkeit – einst bei 20 Prozent - ständig fiel: bis auf 3,2 Prozent im Jahr 2020. Damit schrumpfte auch die Zahl der Polen, die Glück und Arbeit in Großbritannien und Deutschland suchten. Inzwischen ist Polen selbst ein Einwanderungsland für seine östlichen Nachbarn geworden.
Dr. Ewa Łabno-Falęcka, Kommunikationschefin von Mercedes-Benz Polska, sieht es tendenziell ähnlich wie Plociennik, was den Kern des polnischen Aufschwungs angeht. Polen hatte – im Unterschied zur DDR – schon vor 1989 einen Privatsektor in Kleinhandel und Landwirtschaft, und mit dem Wegbrechen der politischen Barrieren hätte sich eine Flut von kleinen privaten Firmen aller Art gebildet.

Die Polen insgesamt seien auch über drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus hungrig nach finanziellem Erfolg. In Polen gebe es auch größere Karrierechancen als in der saturierten deutschen Gesellschaft, mehr Raum, die Dinge zu gestalten. Dabei setzten Polen sehr wenig auf den Staat, von dem sie mangels sozialer Sicherungssysteme nichts erwarteten.
Polen brauchte ausländische Investitionen. Auch die jetzige Regierung sei „sehr kundenorientiert“ gewesen, als Daimler den Bau einer Motorenfabrik im niederschlesischen Jawor in einer Sonderwirtschaftszone westlich von Breslau in Angriff nahm. Auch die regionalen Behörden seien hilfreich gewesen, sagt Ewa Łabno-Falęcka: „Investoren haben es gut in Polen.“ Wider Erwarten habe man in Niederschlesien auch qualifiziertes Personal gefunden: „Polen bietet immer noch relativ gut ausgebildete Arbeitskräfte an. Allerdings lässt technische Ausbildung in der schulischen Mittelstufe einiges zu wünschen übrig, aber da bieten wir als Arbeitsgeber viele Fortbildungsangebote an.“
Mercedes-Benz habe auch neue Wege beschritten, Arbeitskräfte zu gewinnen – Frauen. Mehr als 40 Prozent der Belegschaft in Jawor sei weiblich, viel mehr als in allen anderen über 30 Mercedes-Autowerken weltweit, wo es durchschnittlich 15 Prozent seien. Viele Frauen seien schon Vorarbeiterinnen oder sogar Meisterinnen. „In der Industrie 4.0 sind Muskeln nicht mehr gefragt, sondern der Umgang mit Digitaltechnik.“
Die polnisch-deutsche Zusammenarbeit in Unternehmen funktioniere gut, wenn deutsche Arbeitsorganisation auf polnische Findigkeit stoße, befindet die ehemalige Diplomatin, die 15 Jahre in Deutschland gelebt hat, und die praktisch keine Mentalitätsunterschiede sieht.
Trotz aller Erfolge könnten die polnisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen einen dritten Schub brauchen, findet Sebastian Płóciennik. Der könnte ausgerechnet aus der Corona-Pandemie resultieren, wenn Überlegungen wegen vielfacher Lieferschwierigkeiten Realität würden, Produktion beispielsweise aus Asien wieder nach Europa zu holen.
Sehr gut entwickeln würde sich auch die polnische IT- und Gaming-Szene. Katarzyna Furmaniak beispielsweise hat 2020 mit einem Partner die IT-Firma SMART-DE in Breslau entstehen lassen: „Wir entwickeln mit gut 26 Mitarbeitern vor allem individuelle AR-VR-Anwendungen, Mobile- und Web- Applikationen und maßgeschneiderte Kundensoftware, hauptsächlich für Industrie, Automotive, Immobilien, Gesundheitsvorsorge, Ausbildung und Unterhaltungs-Branchen. Hinter uns steht ein IT-Unternehmen mit 60 Mitarbeitern, das uns mehr flexibel macht. “

Aus ihrer 21-jährigen Erfahrung, davon zehn Jahre, die sie als Vertriebsleiterin in der Metallindustrie mit Deutschland hatte, hat sie Lehren gezogen: „Ich kenne die deutsche Mentalität insbesondere in der Industrie. Sie ist eher konservativ, und einfach ist der deutsche Markt nicht. Man braucht Geduld, um Vertrauen in die Verlässlichkeit bei den deutschen Unternehmen zu gewinnen.“
Dann allerdings gelinge es, nahezu freundschaftliche Beziehungen aufzubauen. Inzwischen mache man gute Geschäfte mit Deutschland und Österreich.
Erfahrungen aus Deutschland helfen in Polen
Hilfreich sei auch, wenn polnische Mitarbeiter wie ihr Geschäftspartner bei BMW erlangte Erfahrungen aus Deutschland mitbringen, wo die Industrie weiter entwickelt sei als in Polen.
Die Polen brächten in Geschäftsbeziehungen Lust an der Lösung komplexer Probleme mit: „Wir haben Freude an Herausforderungen.“ Und dann kommt wieder das Wort, das auch Płóciennik und Łabno-Falęcka immer wieder verwendeten: „Wir sind flexibel.“
Allerdings ginge auch manches polnische Engagement in Deutschland schief. Kapitalmangel bringe polnische Unternehmen dazu, zu schnell Ergebnisse erzielen zu wollen, um rasch Geld zu verdienen. Furmaniak: „Dann bauen sie zu viel Druck auf, bevor sie als gleichberechtigter Partner anerkannt sind.“
Rosarot malt auch Płóciennik die Lage nicht: Deutschen Investitionen von 36 Milliarden Euro in Polen stünden kaum 1,5 Milliarden Euro aus Polen in Deutschland gegenüber. Das heize eine zum Teil politische Diskussion über Asymmetrien in den bilateralen Beziehungen an.
Die Abhängigkeit von Deutschland werde manchmal auch von einer anderen Seite betrachtet. Wenn in Deutschland, wie oft geunkt wird, die Innovationskraft abnehme und das Land von den USA und China abgehängt würde, hätte das unmittelbare negative Folgen für Polen. Eine Aussicht, die Ewa Łabno-Falęcka nicht teilt. Polen sei beweglich, habe schon 1990 seine Wirtschaftsbeziehungen um 180 Grad von der Sowjetunion in Richtung Westeuropa gedreht.

Grafik: dpa
Was die Zusammenarbeit heute richtig trübt, so Płóciennik, ist Politik. So sei die russisch-deutsche Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, die außer in Deutschland und Russland keine wirklichen Freunde hat und speziell in Mittelosteuropa strikt abgelehnt wird, eine „Katastrophe“ für die polnisch-deutschen Beziehungen.
Rechtsstaatlichkeits-Streitigkeiten und die Reparationsfrage machen ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Polen und Deutschland nicht einfacher.
Er beobachte in seiner Branche, dass sich gerade bei jüngeren politischen Analytikern in Polen Misstrauen gegenüber Deutschland ausbreite. In Deutschland wiederum sieht er schwindendes Interesse und Gleichgültigkeit gegen über den polnischen Vorbehalten. Dazu passe, dass seit zwei Jahren keine gemeinsamen Regierungskonsultationen mehr abgehalten wurden..
Gut wäre, wenn deutsche Unternehmen mit mehr Forschungszentren die Innovationskraft Polens stärken würden, und wenn sich beide Länder auf ein gemeinsames, großes Prestigeprojekt einigen könnte, wie es Deutschland und Frankreich beispielsweise mit Airbus haben. Das könnte, so denkt Płóciennik laut, beispielsweise eine Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke von Kiew über Warschau und Berlin nach Paris sein.