Ein Winken zum Abschied: Muss Erdogan am Sonntag abdanken?
Am Wochenende wählen die Türken einen neuen Staatspräsidenten und ein neues Parlament.

Diesmal könnte es Recep Tayyip Erdogan tatsächlich erwischen.
Am Sonntag wählt die Türkei einen neuen Staatspräsidenten und ein neues Parlament. Dabei könnte es zu einem Wendepunkt in der jüngeren türkischen Geschichte kommen: Der seit 20 Jahren - zunächst als Ministerpräsident, seit 2014 als Präsident - regierende Erdogan könnte abgewählt werden. Sein Herausforderer, der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu, hat fast die komplette Opposition in einem Bündnis hinter sich vereint und liegt den meisten Umfragen zufolge in der Wählergunst zwischen zwei und zehn Prozentpunkten vorn.
Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet
Trotzdem wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet, wenn am Sonntag die rund 64,3 Millionen Türkinnen und Türken - darunter sechs Millionen Erstwähler - aufgerufen sind, ihre Stimme abzugeben. Neuer Präsident wird, wer im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen hat. Erreicht keiner der Kandidaten diese Mehrheit, treten die zwei Bestplatzierten - aller Voraussicht nach Erdogan und Kilicdaroglu - zwei Wochen später in einer Stichwahl gegeneinander an.

Im Fall eines Siegs von Erdogan wird erwartet, dass dieser seine Macht zementiert und das Land weiter in Richtung Diktatur abgleitet. Erdogan hatte 2017 nach einem Referendum das Präsidialsystem eingeführt, das ihm weitreichende neue Befugnisse gab. Seitdem ist er Präsident, Premier und Vorsitzender seiner islamisch-konservativen Partei AKP in einem, regiert das Land als Autokrat mit zunehmend harter Hand. Möglicherweise könnte das Wahlsystem dann noch weiter ausgehöhlt werden, wenn Erdogan an der Macht bleibt.
Kilicdaroglu will mehr Demokratie
Der Sozialdemokrat Kilicdaroglu hingegen hat bei einem Wahlsieg umfassende Reformen in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angekündigt. Die Opposition möchte das Präsidialsystem abschaffen und die Gewaltenteilung wieder einführen, politische Gefangene aus dem Gefängnis entlassen und Meinungsfreiheit garantieren. Die Türkei wolle zudem „sämtliche demokratische Standards der EU (...), ohne die Öffnung eines neuen Kapitels durch die EU abzuwarten, vollständig umsetzen“, sagte Kilicdaroglu kürzlich in der ARD. Auch eine Abkehr von Erdogans Wirtschaftsmodell, das durch Zinssenkungen zu einer Hyperinflation und verheerenden Wirtschaftskrise geführt hat, plant die Opposition.
Im Falle eines Wahlsiegs werde es „Frühling in der Türkei“ werden, verspricht Kilicdaroglu. Sein Bündnis, in dem sich sechs Parteien mit sehr unterschiedlicher Ausrichtung zusammengefunden haben - darunter Sozialdemokraten, Nationalisten und gemäßigte Islamisten - und das zudem von der kurdischen HDP-Partei unterstützt wird, vereine „die Sehnsucht nach Demokratie“.

Erdogan könnte zu Protesten aufrufen
Nicht wenige Experten fürchten, dass Erdogan, vor allem bei einer knappen Niederlage gegen Kilicdaroglu, am Wahlabend - wie der abgewählte US-Präsident Donald Trump - zu Protesten aufrufen könnte. Und dann wäre unsicher, auf welcher Seite Polizei und Militär stehen würden.
Die Lage im Land ist vor der richtungsweisenden Wahl extrem angespannt. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu hatte die Wahl im Vorfeld mit „einem Putschversuch“ des Westens gegen Erdogan verglichen. Die Opposition rechnet mit Wahlbetrug. Die türkische Wahlkommission versichert hingegen, für eine faire Wahl zu sorgen - auch im Erdbebengebiet, wo im Februar über 50.000 Menschen ums Leben gekommen waren. Es gibt Befürchtungen, dass in den Trümmern gefundenen Dokumente von Toten zur Stimmabgabe genutzt werden könnten.