Protest in Belarus
Die kleinen, großen Helden des Widerstands
Die friedliche Revolution in der DDR dient als Vorbild für den Kampf gegen Europas letzten Diktator

Minsk - Das schmerzhafte Zupacken der maskierten Uniformierten haben die drei stadtbekannten Minsker - ein Baumpfleger, eine Rentnerin, ein Händler - oft zu spüren bekommen: Sie kämpfen wie Hunderttausende Belarussen gegen die offenkundig gefälschte Wahl am 9. August, die der seit 26 Jahren regierende Präsident Alexander Lukaschenko gewonnen haben will, und der mit Gewalt an der Macht bleiben will.
„Je mehr sie uns Angst machen, desto mehr verteidigen wir uns“, sagt Baumpfleger Stepan Latypow (40) auf dem Hof seines Wohngebiets. An der Betonwand hinter ihm kleben frisch angebrachte Papierporträts zweier DJs. Zu ihren Ehren heißt der Hof „Peremen“- russisch für Veränderung und Titel eines sowjetischen Kultsongs. Die DJs hatten bei einer Kundgebung den verbotenen Song aufgelegt, wurden zu mehrtägiger Haft verurteilt.

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Es gibt auch einen Hof für Swetlana Tichanowskaja (38), aus Sicht der Demokratiebewegung Wahlsiegerin. Ins litauische Exil gezwungen, lenkt sie von dort den Aufstand gegen „Europas letzten Diktator“, warb gerade in Berlin um Unterstützung.
Festnahme wegen nichts
„Es sind nur Bilder aus Papier von zwei DJs. Aber die Staatsmacht rückt an, um sie zu entfernen“, klagt Latypow. Uniformierte stürzen sich auf ihn, tragen ihn weg. Er sagt noch, dass er schon lange keine Angst mehr habe. „Das Gemeinschaftsgefühl, das wir hier haben, wiegt alles auf. “

Nina Baginskaja (73) kommt oft abends mit weiß-rot-weißer Fahne zur Kirche am Unabhängigkeitsplatz und berichtet dort Zuhörern, wie wichtig Rückgrat und Ausdauer im politischen Kampf sind. Sie ist zwei Köpfe kleiner als die Männer der Sonderpolizei. Trotzdem geht sie bisweilen mit den Fäusten auf die Hünen los, wenn die ihr wieder einmal eine Fahne entreißen. Immer wieder ist sie dabei, wenn Frauen gegen Lukaschenko demonstrieren. Mehrmals festgenommen, lassen sie die Uniformierten an der nächsten Ecke laufen. Ihre Geldstrafen wegen Teilnahme an Protesten aber kann die frühere Geologin kaum zählen. Sie zahlt nie. Dafür wird ein Teil ihrer Rente gepfändet, die bei 100 Euro liegt.

Pawel Belous (37) verkauft online Flaggen, wie Nina Baginskaja sie trägt. „Wir kommen kaum hinterher mit den Bestellungen“, sagt er vor Kisten mit T-Shirts, Tassen, Aufklebern gegen Lukaschenko. Doch nichts sei so wichtig wie die historischen Fahnen. Sie erinnern - anders als die rot-grüne Staatsflagge - an die Zeiten der Unabhängigkeit. Lukaschenko schaffte die Fahne 1994 ab. Auch Belous hat schon Tage in Haft verbracht. „Es ist fast ein Ritterschlag, wenn du festgenommen wurdest.“ Er erinnert auch an Folteropfer. Aber er ist überzeugt, dass die Gesellschaft aufgewacht ist. „Die friedliche Revolution in der DDR dauerte auch Monate, bis am Ende die Mauer fiel.“