Widersprüchliche Aussagen

Chronik der Schiffskatastrophe vor Griechenland: Der Tod kam am 5. Tag der Reise

Der Kutter, der über 500 Menschen in die Tiefe riss, war am 9. Juni in Libyen losgefahren, ging am 14. Juni unter.

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Ein Foto der griechischen Küstenwache zeigt den Kutter in der Nacht seines Untergangs.
Ein Foto der griechischen Küstenwache zeigt den Kutter in der Nacht seines Untergangs.Hellenic Coast Guard/dpa

Nach dem Untergang eines Bootes mit Hunderten Migranten vor der südgriechischen Küste streiten Aktivisten, Grenzschützer, Migrationsexperten und Politiker über den Hergang und eine mögliche Mitverantwortung der Küstenwache.

Aktivisten berichten, Menschen an Bord hätten mehrfach um Hilfe gebeten, die Küstenwache habe jedoch nicht eingegriffen. Die Küstenwache betont dagegen, vom Kutter aus sei Hilfe wiederholt abgelehnt. Unterschiedliche Angaben gibt es auch darüber, ob das etwa 30 Meter lange Fischerboot abgeschleppt werden sollte.

Die Nachrichtenagentur AP hat den Ablauf der Katastrophe rekonstruiert anhand von Informationen der griechischen Behörden, der Besatzung eines Handelsschiffes und von Aktivisten, die nach eigener Darstellung in Kontakt mit Menschen an Bord des Kutters standen. Viele der Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. Was fehlt, sind Aussagen von Überlebenden – ein Reporter des WDR hatte mit einigen gesprochen. Sie sagten, das Boot sei auf den Haken genommen worden.

Die Abfahrt

Am 9. Juni, einem Freitag, sticht im Osten Libyens ein betagter Fischkutter in Richtung Italien in See. Das Schiff ist überfüllt. An Bord drängen sich bis zu 750 Frauen, Männer und Kinder aus Syrien, Ägypten, Pakistan und den palästinensischen Gebieten. Sie versuchten, Verwandte in Europa zu erreichen.  

Der erste Kontakt

Am Dienstag, 13. Juni informieren die italienischen Behörden gegen 11 Uhr griechische Stellen, dass sich ein Fischkutter voller Migranten südlich der Peloponnes befinde. Nach griechischen Angaben wurden die Italiener von Aktivisten alarmiert.

Etwa zur gleichen Zeit schreibt die Menschenrechtsaktivistin Nawal Soufi im Internet, sie stehe in Kontakt mit einer Frau auf einem Schiff, das vier Tage zuvor Libyen verlassen habe. Das Trinkwasser werde knapp.

„Dramatische Situation an Bord. Sie brauchen sofort Rettung“, schreibt Soufi. Sie teilt die Koordinationsdaten des Telefons, von dem sie angerufen wurde. Es befindet sich etwa 100 Kilometer von Griechenland entfernt.

Im Laufe des Tages erhält Soufi nach eigenen Angaben etwa 20 Anrufe von Bord des Kutters.  AP konnte die Menschenrechtsaktivistin nicht erreichen.

Ein Überwachungsflugzeug der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex entdeckt den Kutter um 12.47 Uhr und informiert die griechischen Behörden. Weitere Einzelheiten will Frontex nicht mitteilen.

Was geschieht an Bord?

Um 14 Uhr stellen griechische Behörden Funk- oder Telefonkontakt zu jemandem auf dem Kutter her. Das Schiff habe keinerlei Hilfe von der Küstenwache oder von Griechenland erbeten, erklärt sie.

Aktivsten sagen dagegen, die Menschen an Bord seien bereits in einer verzweifelten Lage gewesen. Soufi schreibt um 15.11 Uhr, Passagiere hätten ihr berichtet, dass sieben Menschen bewusstlos geworden seien.

Unabhängig von Soufi empfängt das Netzwerk Alarm Phone, das einen Notruf für Migranten betreibt, einen Anruf von Bord des Kutters. „Sie sagen, dass sie die Nacht nicht überleben, dass sie in großer Not sind“, zitiert das Netzwerk aus dem Anruf.

Luftbilder des überfüllten Seelenverkäufers entstehen

Am Tag vor dem Untergang machte die Besatzung eines griechischen Küstenwachen-Schiffs dieses Bild des völlig überfüllten Flüchtlingsschiffs.
Am Tag vor dem Untergang machte die Besatzung eines griechischen Küstenwachen-Schiffs dieses Bild des völlig überfüllten Flüchtlingsschiffs.Hellenic Coast Guard/AP

Um 15.35 Uhr entdeckt ein Hubschrauber der griechischen Küstenwache den Fischkutter. Eine später veröffentlichte Luftaufnahme zeigt, dass sich beinahe auf jedem Quadratzentimeter Deck Menschen drängen.

Bis 21 Uhr stehen die griechischen Behörden nach eigenen Angaben über Satellitentelefon, Funk und Zurufe, die von Handelsschiffen und einem in der Nacht eingetroffenen Boot der Küstenwache geführt werden, in Kontakt mit Menschen auf dem Kutter. Die Passagiere hätten wiederholt erklärt, sie wollten nach Italien weiterfahren und eine Rettung abgelehnt, heißt es.

Tankschiff bringt Lebensmittel und Wasser

Um 17.10 Uhr bitte Griechenland den unter maltesischer Flagge fahrenden Tanker „Lucky Sailor“, dem Kutter Lebensmittel und Wasser zu bringen. Nach Angaben des Betreibers nehmen die Menschen auf dem Schiff nur sehr zögerlich Hilfe an. Sie wollten nach Italien, hätten sie geschrien, erklärt Eastern Mediterranean Maritime Limited. Die Menschen hätten sich aber schließlich überreden lassen, etwas anzunehmen.

Gegen 18 Uhr meldet ein Hubschrauber der griechischen Küstenwache, der Kutter halte konstant Kurs in Fahrtrichtung.

18.20 teilt Alarm Phone mit, Menschen an Bord hätten berichtet, dass Schiff liege still. Der Kapitän habe sich mit einem Beiboot davongemacht. „Bitte irgend eine Lösung“ habe ein Anrufer gefleht.

Nach Angaben der griechischen Behörden stoppte der Kutter, um Hilfsgüter von der „Lucky Sailor“ zu übernehmen.

Berichte von Toten an Bord

18.55 schreibt Soufi, Migranten an Bord hätten ihr von sechs Toten berichtet, zwei weitere Menschen seien sehr krank. Soufi ist die Einzige, die von Todesfällen auf dem Kutter schon vor dem Untergang berichtet. AP kann ihre Angaben nicht überprüfen.

Gegen 21 Uhr bittet Griechenland ein weiteres Handelsschiff, Trinkwasser zum Kutter zu bringen. Es fährt unter griechischer Flagge. Die «Lucky Sailor« darf abdrehen und ihre Fahrt fortsetzen.

Etwa 22.40 Uhr erreicht ein Schiff der Küstenwache von Kreta aus den Kutter und bleibt bis zum Schluss in der Nähe. Das Schiff beobachte den Kutter aus einiger Entfernung, erklärt die Küstenwache. Das Migrantenschiff habe offenbar keine Probleme und halte Kurs und Geschwindigkeit.

Kurz vor dem Untergang

Soufi zufolge könnte die Übergabe von Hilfsgütern die Probleme des Kutters verschärft haben. Kurz nach 23 Uhr habe das Schiff zu schwanken begonnen, als Passagiere versuchten, Wasserflaschen von einem anderen Schiff zu fangen, schreibt sie. Nach Angaben von Menschen an Bord wurden Seile an das Schiff gebunden, die es destabilisiert und Panik ausgelöst hätten.

Der „Lucky Sailor“-Betreiber versichert der AP dagegen, der Tanker habe keine Seile am Kutter festgemacht, sondern die Hilfsgüter in wasserdichten Fässern verstaut, die an ein Seil gebunden gewesen seien. „Diejenigen, die sich an Bord des Bootes befanden, ergriffen die Leine und zogen“, erklärt Eastern Mediterranean Maritime. Das zweite Handelsschiff reagierte nicht auf Anfragen der AP.

Küstenwache besteht auf der Aussage: Wir haben das Boot nicht abgeschleppt

Ein Sprecher der Küstenwache erklärt, ihr Schiff habe zwar kurz ein dünnes Seil am Kutter angebracht, aber zu keiner Zeit versucht, diesen abzuschleppen. Kommandant Nikos Alexiou sagt dem griechischen Fernsehsender Ant1 TV, die Küstenwache habe den Zustand des Kutters überprüfen wollen. Die Menschen an Bord hätten jedoch erneut die Annahme von Hilfe verweigert, das Seil gelöst und ihren Kurs fortgesetzt.

Gegen 23  Uhr hat Soufi das letzte Mal Kontakt mit dem Kutter. Niemand habe den Willen geäußert, nach Italien weiterzufahren oder Hilfe aus Griechenland abgelehnt. „Sie waren in Gefahr und brauchten Hilfe“, sagt sie.

Das katastrophale Ende

Nach Angaben der Behörden stoppt die Maschine des Kutters am Mittwoch gegen 1.40 Uhr nachts. Das Schiff der griechischen Küstenwache nähert sich ihm, um herauszufinden, was für ein Problem es gibt.

Wenige Minuten später hat Alarm Phone noch einmal Kontakt zu Menschen auf dem Fischkutter. Dieser bricht nach Angaben der Organisation jedoch nach wenigen Worten ab.

Um 2.04 Uhr berichtet die Küstenwache, der Kutter beginne heftig zu schwanken. Dann kentert er. Menschen werden in der Dunkelheit ins Wasser geschleudert. Andere klammern sich am Boot fest. Viele andere, darunter Frauen und Kinder, sind unter Deck eingeschlossen. Eine Viertelstunde später sinkt der Kutter.

Die Luxusjacht eines mexikanischen Milliardärs brachte die Geretteten in den Hafen von Kalamata auf der Halbinsel Peloponnes
Die Luxusjacht eines mexikanischen Milliardärs brachte die Geretteten in den Hafen von Kalamata auf der Halbinsel Peloponneswww.argolikeseidhseis.gr/AP

In nächtlicher Finsternis werden 104 Menschen lebend aus dem Wasser gezogen und von der Luxusjacht „Mayan Queen IV“, die in der Nähe unterwegs war, ans Ufer gebracht. Die griechischen Behörden bergen 78 Leichen. Seit Mittwoch ist niemand mehr gefunden worden. Gut 500 Menschen werden vermisst. Es ist eine der schlimmsten Schiffskatastrophen im Mittelmeer.