Vor 70 Jahren
17. Juni 1953: Der Aufstand, der die DDR erschütterte – und doch vergessen scheint
Selbst im Osten Deutschlands kann nur jeder Zweite das Datum 17. Juni 1953 sofort mit dem Volksaufstand in der DDR in Verbindung bringen.

Der 17. Juni 1953, das war nicht nur ein Generalstreik von Arbeitern in Ost-Berlin. An 700 Orten der damals erst knapp vier Jahre alten DDR demonstrierten bis zu eine Million Menschen – gegen neue Arbeitsnormen, aber auch gegen die SED, für freie Wahlen und mehr Wohlstand. Binnen Stunden wurde der Ausnahmezustand verhängt. Sowjetpanzer und Volkspolizei rückten aus. Am Ende waren 55 Menschen gestorben. Mehr als 10.000 wurden verhaftet, 1500 kamen hinter Gitter.
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Diese Fakten sind bekannt. Auch zum 70. Jahrestag am Sonnabend wird die mutige Beinahe-Revolution wieder gewürdigt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Gerade die Menschen in Ostdeutschland können mit Stolz und großem Selbstbewusstsein darauf zurückblicken.“ Und doch bleibt die kollektive Erinnerung daran bis heute seltsam blass.
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Gerade junge Leute wissen wenig über den Aufstand. In einer Forsa-Umfrage konnte nur jeder siebte im Alter von 14 bis 29 Jahren spontan etwas mit dem Datum anfangen. Insgesamt verbinden 50 Prozent der Ostdeutschen und 40 Prozent der Westdeutschen mit dem Datum sofort den Volksaufstand.

Die DDR-Oberen schwiegen den Volksaufstand tot
Das dürfte daran liegen, dass die DDR-Propaganda jahrzehntelang geschwiegen hat, nachdem sie sich über den angeblich vom Westen gesteuerten „faschistischen Putsch“ echauffiert hatte. „Auch durch Weglassen kann man Geschichte manipulieren“, sagt der frühere Bürgerrechtler Frank Ebert, heute Berlins Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. „In der DDR kannte ich den 17. Juni 1953 nur aus Erzählungen meiner Oma.“
Die Bundesrepublik erklärte den 17. Juni zwar schon 1953 zum Feiertag, erreichte aber wenig nachhaltiges Interesse – die Leute gedachten wenig, gingen lieber ins Schwimmbad.
Es sind die Zeitzeugen, die die Wucht dieser Massenproteste plastisch machen. Günter Toepfer etwa erinnert sich 70 Jahre später noch an die Kinderperspektive von damals. Gegen 9 Uhr an diesem Mittwochvormittag kam der Rektor seiner Schule in Jena in die Klasse und schickte die Schüler nach Hause. Toepfer, damals knapp zwölf Jahre alt, ahnte, dass etwas los war.
Auch fernab von Berlin demonstrierten die Massen
Statt nach Hause lief der Junge in die Innenstadt. 20.000 Menschen auf dem Holzmarkt, dazwischen sowjetische Panzer. Die Masse quetschte den Jungen gegen eine der Kriegsmaschinen. „Da fühlt man sich schon sehr schlecht“, erzählte der heute über 80-Jährige bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung Aufarbeitung.
Als beim Sturm auf die Zentralen der FDJ und des FDGB in Jena kiloweise Akten und Propagandaschriften flogen, witterte der Knirps das Geschäft seines Lebens. Er sammelte fleißig, um das Altpapier zu verhökern. Später wurde ihm dann mulmig, die offiziösen Schriften zu verramschen. Er verbrannte sie zu Hause im Badeofen.

Aus einem Fenster der Jenaer Gewerkschaftszentrale warf jemand ein Bild des sowjetischen Diktators Josef Stalin direkt vor die Füße des Schuljungen. „Hatte ich ein Glück, dass Stalin mir nicht auf die Birne flog“, flachst Toepfer. Dann sah er eine Frau, die wie von Sinnen auf dem Stalin-Bild herumtrampelte. „Ich habe also noch nie eine so tollwütige Frau gesehen, auch später nicht.“
Mehr arbeiten, aber nicht mehr verdienen? Verstärkte SED-Repressionen brachten die Menschen auf
Anlass der Proteste war die sogenannte Normerhöhung – für dasselbe Geld sollte zehn Prozent mehr gearbeitet werden. Aber das war nur das letzte Tröpfchen im sprichwörtlichen Fass. Die SED hatte im Juli 1952 den „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ beschlossen: nationale Streitkräfte, Bildung von LPGs, Ächtung privater Unternehmen und mehr Repressalien.
Die Zahl der Häftlinge in den Gefängnissen wuchs binnen weniger Monate von 37.000 auf 67.000. Zudem flüchteten vom Sommer 1952 bis Sommer 1953 rund 300.000 Menschen in den Westen. Dem Arbeiter- und Bauernstaat fehlten bald Arbeiter und Bauern, folglich Lebensmittel und Konsumgüter. Mehr Arbeit, weniger Wohlstand – eine explosive Mischung.
Eine Kehrtwende der hilflos wirkenden SED am 10. Juni auf Druck der Besatzungsmacht UdSSR machte die Sache nicht besser.
Der Historiker Udo Grashoff aus Halle/S.: „Es war eine Situation, wo man gespürt hat, die Funktionäre sind hilflos, die wissen nicht mehr, was sie machen sollen. Niemand konnte erklären, warum die SED eine so völlig komplette 180-Grad-Wende macht.“
Niemand habe gewusst, dass die Order aus Moskau kam, doch die Menschen witterten Schwäche. Es fehlte nur ein kleiner Anstoß, um die Protestwelle in der ganzen DDR in Schwung zu bringen. Als der Westberliner Sender Rias über die Streiks in Ost-Berlin berichtete, war es so weit.
Historiker: Kanzler Adenauer hielt den Aufstand für eine sowjetische Inszenierung
Dass der Westen hinter dem Aufstand steckte, hält Grashoff aber für Unsinn. „Es gibt eher Hinweise dahin, dass der Westen völlig auf dem falschen Dampfer war.“ Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) habe „ja noch Mitte des Tages gesagt, dass das wahrscheinlich eine von den Russen inszenierte Demonstration ist, und dass er sich da lieber nicht einmischen will“.

Der Aufarbeitungsbeauftragte Frank Ebert ist der Auffassung, dass der Aufstand keine Chance hatte. „Die Sowjetunion wollte ja ihre Einflusssphäre schützen, ihre Truppen standen bereit. Und gegen Panzer kann man mit Steinen nichts ausrichten.“
Erst 1989 brachten Ebert und andere Oppositionelle den Staat ins Wanken, als Moskau und die SED die Truppen in der Kaserne ließen.
Frank Ebert äußert unterdessen Kritik an der Form des Gedenkens an die Toten, Verletzten und Inhaftierten des Volksaufstands. Es sei wichtig, heute aber stark ritualisiert: „Der 17. Juni rückt vor allem zu runden Jahrestagen wie in diesem Jahr in den Blick. Wir sollten uns aber nicht darauf beschränken, den Mut der Aufständischen und das Schicksal der Verfolgten nur an Jahrestagen zu würdigen.“
Deutschland braucht einen Ort zur Würdigung seiner Freiheits- und Demokratiegeschichte
Um den Volksaufstand in der DDR stärker in der deutschen Erinnerungskultur zu verankern, ist es nach seiner Auffassung notwendig, einen zentralen Ort zur Würdigung der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte zu schaffen: „Gelingen kann dies über die Realisierung des Forums Opposition und Widerstand auf dem Campus für Demokratie“ auf dem Gelände der einstmaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg.
Das Projekt zeige auf, wie gerade junge Menschen durch innovative Formate am historischen Ort erfahren können, dass Freiheit, Menschenrechte und Demokratie nicht selbstverständlich sind.
- Um junge Leute über die Ereignisse zu informieren, hat der Berliner Aufarbeitungsbeauftragte (BAB) Frank Ebert eine neue Broschüre herausgegeben. Sie erläutert Vorgeschichte, Ablauf und Folgen des Volksaufstands. Die Broschüre eignet sich besonders für Schüler ab Klasse 10. Sie kann hier heruntergeladen oder bestellt werden.
- Zur Rolle der Frauen beim Volksaufstand haben Eberts Mitarbeiterinnen Dr. Andrea Bahr und Michèle Matetschk geforscht. Ihre Erkenntnisse zeigen, dass Frauen rund um die Ereignisse vom 17. Juni 1953 eine wichtige Rolle spielten: als Demonstrantinnen und Streikführerinnen, oder aber auch als Vertreterinnen des Machtapparats (Bundeszentrale für politische Bildung).
- In Zusammenarbeit mit dem Abgeordnetenhaus von Berlin erzählt der BAB die Geschichte des Volksaufstands auf Instagram aus verschiedenen Perspektiven – in Comicform. Die Reihe läuft bis zum 21. Juni auf dem Instagram-Kanal des Abgeordnetenhauses agh_berlin.
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