Ursula Lehr war in der Wendezeit Bundesgesundheitsministerin im Kabinett Kohl. Am Sonnabend ist sie bei der Einheitsfeier dabei. 
Ursula Lehr war in der Wendezeit Bundesgesundheitsministerin im Kabinett Kohl. Am Sonnabend ist sie bei der Einheitsfeier dabei.  Foto: Imago 

Als die Mauer fiel, saß Ursula Lehr bei einem festlichen Staatsbankett im ehemaligen Palais der Fürsten von Radziwill in Polen. Sie erinnert sich genau, wie der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl plötzlich eine Nachricht hereingebracht bekam und unruhig wurde. Am 3. Oktober ist die damalige Bundesfamilien- und Gesundheitsministerin (CDU) bei der 30. Wiedervereinigungsfeier in Potsdam. Moderator Günter Jauch wird mit der 90-Jährigen auf die letzten Jahrzehnte blicken, weitere Gäste sind der Mitbegründer der Gruppe Keimzeit, der Bad Belziger Norbert Leisegang (60), sowie das erste gesamtdeutsche Baby, Ronja Bücher (30) aus Leipzig. Wir sprachen mit ihr – auch darüber, was heute noch im Argen liegt.

KURIER: Frau Lehr, was ist Ihnen aus der Wendezeit besonders haften geblieben?

Ursula Lehr: Vieles, aber vor allem auch der Mauerfall. Wir sind am 9. November 1989 mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl nach Polen geflogen, der Staatsbesuch war lange vorbereitet worden. Es ging um eine Versöhnung mit Polen. Sieben Bundesminister sowie Dutzende Vertreter aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Kultur begleiteten den Kanzler. Insgesamt sollten elf Abkommen und Vereinbarungen unterschrieben werden, darunter ein gewaltiges Paket an Wirtschaftshilfen. Ich war als einzige Frau dabei, weil wir einen deutsch-polnischen Jugendvertrag unterzeichnen wollten. Abends hatte uns der polnische Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki zu einem Staatsbankett eingeladen. Es war sehr feierlich. Ich saß direkt neben Helmut Kohl, Tadeusz Mazowiecki und Hans-Dietrich Genscher. Am Anfang des Essens kam jemand rein und hat Helmut Kohl etwas ins Ohr geflüstert, dieser tuschelte daraufhin hinter dem Rücken des polnischen Ministerpräsidenten mit Genscher. Das war schon sehr ungewöhnlich.

Ich habe damals sehr Willy Brandt bewundert, als Kohl ausgepfiffen wurde.

Ursula Lehr 

Wie ging es weiter?

Während des Dinners kannte niemand die Details. Nur Kohl bekam ständig Nachrichten zugesteckt. Die meisten Gäste schlangen hastig und in Gedanken versunken ihr Essen hinunter. Jeder war froh, als das Essen endlich vorbei war. Wir haben den Mokka danach im Foyer getrunken. Kohl telefonierte ständig mit Bonn und erklärte, jetzt sei sein Platz in Berlin. Erst da erfuhren wir, dass die Mauer gefallen war.

Wie reagierte der polnische Ministerpräsident?

Das war sehr mutig von Kohl, zu sagen, dass er abreist, weil der Staatsbesuch lange vorbereitet gewesen war. Aber wir versprachen, am anderen Tag wiederzukommen. Wir sind dann am nächsten Morgen in aller Frühe nach Hamburg geflogen und von dort aus mit einer amerikanischen Maschine nach Berlin Tempelhof. Dort wurden wir in Autos gepfercht, weil es keine Staatskarossen gab, und sind ins Rathaus Schöneberg gefahren. Helmut Kohl hielt dort auf dem Balkon eine kurze Ansprache und wurde ausgepfiffen. In dem Moment habe ich Willy Brandt bewundert, der vortrat und beruhigende Handbewegungen machte. Danach waren alle Schreier still. Danach fuhren wir zur Gedächtniskirche, wo eine riesige Menschenmenge versammelt war, der Empfang herzlich und begeistert war. In der Nacht ist die Delegation zurück nach Bonn geflogen und am nächsten Morgen ging es wieder nach Warschau, um den dortigen Staatsbesuch fortzusetzen.

Wie haben Sie die Zeit danach erlebt?

Als eine sehr spannende. Bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 habe ich unzählige Male die DDR und dortige Krankenhäuser und Kindertagesstätten besucht. Daran habe ich viele traurige, aber auch manche schöne und nachdenklich stimmende Erinnerungen.

Zwischen Ost und West gibt es noch Wachstumsbedarf.

Ursula Lehr 

Was waren das für Situationen?

Ich habe damals beispielsweise ein Krankenhaus besucht und dort konnten bestimmte Operationen nicht durchgeführt werden, weil Einweghandschuhe in mittleren Größen fehlten. Die Keramikform war kaputt gegangen. Daraufhin haben wir in Frankfurt beim Roten Kreuz Tausende Einweghandschuhe zum Krankenhaus geschickt. Als wir zwei Monate später das Krankenhaus wieder besuchten, hingen diese schön gewaschen an der Leine, weil die Mitarbeiter dort nicht wussten, ob es Nachschub gibt. Ich fand es auch beeindruckend, wie Not erfinderisch macht. In Dresden gab es in einem Altenheim keine Rollstühle. Um die älteren Herrschaften in ein Ärztezimmer zu bringen, brauchte man diese aber. Da hatte man einen Holzsessel genommen und unten an die Beine Räder von Kinderschubkarren geschraubt. Da habe ich sehr gestaunt. Überhaupt, das Pflegepersonal arbeitete sehr einsatzbereit und engagiert – in allen Heimen, die ich besucht habe!

Gab es auch nicht so gute Erinnerungen?

Interessant war, als nach dem 3. Oktober Jugendliche zu mir ins Ministerium nach Bonn kamen. Viele beklagten, dass es ihnen jetzt nicht besser gehe, denn niemand sage ihnen, für welchen Beruf sie sich entscheiden sollen. Sie zeigten kaum Eigeninitiative. Das war ihnen vom Staat genommen worden.

Altern ist kein statischer Zustand, sondern ein lebenslanger Prozess des Lernens und der Veränderung. Man ist nie „fertig“. Es geht nicht nur darum, dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben.

Ursula Lehr

Das ist 30 Jahre her, sind für Sie Ost und West inzwischen zusammengewachsen?

Auf jeden Fall, auch wenn es noch Wachstumsbedarf gibt. Ich beobachte nach wie vor fehlende Eigeninitiative bei manchen Menschen. Manch einer ist es nicht gewohnt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Anderseits war das gemeinschaftliche Miteinander in der Familie und mit Nachbarn in Ostdeutschland viel ausgeprägter. Das zeigt sich jetzt auch in der Corona-Zeit.

Sie haben sich nach 1991 erneut der Wissenschaft gewidmet, sind eine bekannte Alternsforscherin und setzen sich nach wie vor für die Belange der Senioren und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein. Mit ihrem Standardwerk „Psychologie des Alterns“ wurden Sie bereits 1972 zur Pionierin der Gerontologie in Deutschland. Was hat Sie die Corona-Zeit gelehrt?

 Mir ging es immer darum, die Lebensqualität der Seniorinnen und Senioren zu verbessern. Altern ist kein statischer Zustand, sondern ein lebenslanger Prozess des Lernens und der Veränderung. Man ist nie „fertig“. Es geht nicht nur darum, dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben. Die Corona-Zeit hat aufgezeigt, wo einiges im Argen liegt. Viele Senioren waren plötzlich ausgegrenzt. Teilweise auch, weil man sie ständig behüten möchte. Ich sage immer: Nehmt den älteren Herrschaften Arbeiten ab, aber macht sie nicht unselbstständig. Gebt so viel Hilfe wie nötig, aber so wenig wie möglich!

Viele sind in der harten Corona-Zeit zum Sterben allein gelassen worden, niemand durfte sie besuchen. Dagegen haben wir sehr protestiert. Diese Isolation war unmenschlich.

Ursula Lehr 

Sie waren von 2009 bis 2015 Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), von November 2015 bis 2018 Stellvertretende Vorsitzende. Was haben Sie am meisten in der Zeit des Lockdowns kritisiert?

Wir in der BAGSO fanden den Umgang mit Menschen in vielen Alten- und Pflegeheimen unmöglich. Viele sind in der harten Corona-Zeit zum Sterben allein gelassen worden, niemand durfte sie besuchen. Dagegen haben wir sehr protestiert. Diese Isolation war unmenschlich. Man hätte die Kranken in ein desinfiziertes Zimmer schieben können, damit die Verwandten – unter den entsprechenden Schutzmaßnahmen – bei ihnen sein können. Oder man hätte wenigstens versuchen müssen, dass mithilfe der digitalen Möglichkeiten ein Kontakt zur Außenwelt hergestellt werden konnte.

Gab es auch Vorteile für ältere Menschen?

Man rückte in der Nachbarschaft mehr zusammen, Hausgemeinschaften wurden intensiviert. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft ist gewachsen. Ich sehe hier auch ganz klar eine Möglichkeit, den Senioren jetzt den Weg in die Digitalisierung zu ermöglichen, denn auch alte Menschen können das lernen. Ich erzähle gerne die Geschichte einer 94-jährigen Altenheimbewohnerin, die ich 2005 kennenlernte. Sie hatte einen Sohn, der in Australien lebte. Telefonieren war damals zu teuer. Als man ihr das Skypen zeigte und die Frau fast eine Stunde mit ihrem Sohn sprechen konnte, sie seine Wohnung gezeigt bekam, fasste sie den Entschluss, sich auch einen Laptop anzuschaffen. Das zeigt klar: Die Lernfähigkeit hängt ganz stark von der Motivation ab.