Thilo Christ
Der erste offen HIV-positive Bürgermeister in Deutschland
Thilo Christ ist eine Besonderheit. Ein Berliner in Brandenburg, dazu ein Wessi und auch noch ein Schwuler.

Die Sonne strahlt an diesem Tag zwar fast frühlingshaft, aber über den sehr weiten Nordwesten des Landes Brandenburg weht eine ordentliche Brise. Und so ist auch im Örtchen Sieversdorf-Hohenofen kaum jemand unterwegs. Das Dorf ist größer, als es der Punkt auf der Landkarte vermuten lässt; und die meist wunderbar sanierten Ackerbürger-Häuser sind herrschaftlicher, als es die einsame Gegend erwarten lässt.
Da der Wind alle Leute von der Straße geweht hat, ist es still. Die Vögel sind noch nicht aus dem Süden zurück, und das Einzige, das zu hören ist, sind Schafe. Hinter einem Zaun schauen sie neugierig auf die Neuankömmlinge. Die Tiere sind nur kniehoch, haben aber geschraubte Hörner, die so mächtig sind, dass sich jeder Laie fragt, wie diese kleinen Tiere solche großen Dinger überhaupt tragen können. Willkommen auf dem Lande!
Thilo Christ ist der erste offen HIV-positive Bürgermeister in ganz Deutschland
Auf der anderen Straßenseite ist ein für hiesige Verhältnisse geradezu winziges Grundstück. Dort steht eine alte Bauernkate. In dem liebevoll erhaltenen Häuschen wohnt der bekannteste Mann des Ortes: Thilo Christ, der Bürgermeister. Von solchen ehrenamtlichen Dorfoberhäuptern gibt es viele Tausende, doch Christ ist eine Besonderheit: Er ist der erste offen HIV-positive Bürgermeister in ganz Deutschland. Der schlanke, hochgewachsene Mann öffnet das Tor, zeigt ein herzliches Lächeln und kommt über die Straße. Er trägt nur ein dünnes T-Shirt und hat es trotz des kalten Windes nicht eilig. Er ist zwar ein gebürtiger Berliner, aber längst ein wetterfester Brandenburger. „Hier ist eigentlich immer ein ordentlicher Wind im Gange“, sagt er.
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Bei dem 55-Jährigen kommen einige klassische Gegensatzpaare für Aufs-Land-Zieher zusammen: Großstadt und Dorf sowie Ost und West, dazu ist Christ auch noch schwul. Homosexuelle entfliehen üblicherweise eher der Enge ihrer Dörfer und kleinen Städte und ziehen in anonyme Großstädte wie Berlin. Christ ist den umgekehrten Weg gegangen. Er lebte lange in Prenzlauer Berg. „Kieziger ging es nicht“, wie er sagt. Ende der 90er-Jahre suchte er eigentlich nur ein Wochenendhaus. Meist aber stimmten die Exposés für die Grundstücke nicht mit der Realität überein. Einmal war er bereits auf der Rückfahrt, da fiel ihm ein, dass es da noch ein Haus gab, das abrissreif war. Am Telefon ließ er sich vom Makler erklären, wie er in das Haus kommt. „Ich kam hier gegen Mitternacht an, es war düster, ich stolperte durch diese Bruchbude und habe mich verliebt.“
„Meine Devise war: Ich werde nicht lügen, werde mich nicht verbiegen.“
Am nächsten Tag rief er den Makler an und sagte, dass er kaufen will. „Der erste Wohlfühlgedanke ist oft der beste.“ Er erzählt, dass es einst ein „Mischhaus“ war. Am Anfang und am Ende des schmalen langen Hauses waren die Ställe, und in der Mitte wohnten die Menschen. Er saniert das Haus noch immer und kann Türen öffnen, die zeigen, dass es eine echte Ruine war. Im Dorf fühlte er sich schnell wohl und willkommen und erlebte nicht die sonst oft beschriebene Distanz und Ablehnung gegenüber Berlinern. Er hatte sich ein Grundprinzip zurechtgelegt: Wir gehen offen mit allem um, ohne es ständig zu thematisieren.
„Meine Devise war: Ich werde nicht lügen, werde mich nicht verbiegen, aber ich werde auch nicht alle persönlichen Dinge vor der Brust umhertragen“, sagt er. Zum Beispiel, dass er schwul ist. „Wer aber zu uns kommt und fragt, bekommt Tee und Antworten.“ Und wenn die Ossis ihn nach Berlin fragten, erzählte er, dass er in Prenzlauer Berg gelebt hat. „Als ich später sagte, dass ich in Charlottenburg geboren bin, gab es diese geschauspielerte Entrüstung: Also, wenn wir das gewusst hätten!“ Dann folgte meist ein schallendes Lachen.
Christ macht keine Minderheitenpolitik, sondern vertritt die Interessen des Dorfes
Optisch würde Christ noch immer gut nach Berlin passen: kurze Haare, goldener Stecker am Ohr, kleine Tätowierung am Arm und große moderne Brille. Er sagt, die Leute seien genauso aufgeschlossen und interessiert gewesen wie er. „Es hat mit Authentizität zu tun. Damit, wie man sich in eine bestehende Gemeinschaft hineinbegibt.“ Einbringen heißt für ihn auch, sich zu engagieren, und so sitzt er seit 2014 in der Gemeindevertretung. Als 2019 der Bürgermeister aufhörte, kandidierte Christ.
Hier ist es wie so oft auf dem Lande: Parteien spielen im dorfpolitischen Alltag keine Rolle. Hier gibt es zwei dominante Kräfte: Die eine heißt Wählergruppe Sieversdorf, die andere Wählergruppe für Sieversdorf. Das „für“ in der Mitte ist entscheidend. Die eine Gruppe repräsentiert den im Ort dominanten Sportverein und stellte lange Zeit den Bürgermeister. Thilo Christ trat für die anderen an, dort haben eher die Frauen das Sagen. Bei der Wahl hatte er nur zehn Stimmen Mehrheit. Aber Mehrheit ist Mehrheit. Er macht keine Minderheitenpolitik, sondern vertritt die Interessen des Dorfes. Er kann hochdetaillierte Vorträge halten über die schlechte Versorgung mit dem schnellen Internet. Es geht um Förderrichtlinien, es fallen Worte wie Breitbandausbau, Glasfaserkabel oder VDSL-50-Anschluss. „Ich bin in der Debatte tief drin, weil ich der Überzeugung bin, dass unser Dorf benachteiligt wird.“
Wenn er über seinen Politikalltag erzählt, klingt es fast ein wenig nach heiler Welt auf dem Lande. Doch er sagt auch, dass die Realität eine andere ist. Für die Dorfpolitik spielen die Parteien zwar keine Rolle, aber die Leute haben ihre Meinung zur großen Politik. Und so wählte ein Viertel der Leute bei der Landtagswahl im Herbst die AfD. Thilo Christ sagt, er sei nicht überrascht gewesen. Denn im Flüchtlingsjahr 2015 wollten einige im Ort auch Flüchtlinge aufnehmen. „Einige Nachbarn sind dann unfein geworden“, sagt er. „Die Ablehnung war klar zu spüren.“ Er denkt, dass inhaltliche Debatten wenig helfen. „Ich will einfach zeigen, dass sich Leute für unsere Gemeinschaft engagieren, dass es nicht nur um Protest gehen kann, dass die Demokratie funktioniert und dass das politische Leben der Gemeinde gut läuft.“
Zahl der Einwohner des Dorfes von 685 vor zwei Jahren auf nun 736 gewachsen
Dann startet er einen kleinen Rundgang durchs Dorf, zeigt die fast prunkvolle Kirche, das Dorf-und-Gemeinschaftshaus, wo sie viermal pro Jahr ein Bürger-Café veranstalten, um selbst gebackenen Kuchen zu essen und neue Ideen fürs Dorf zu finden. Dafür bäckt Christ, der früher mal Konditormeister war, natürlich immer eine schöne Torte. Er erzählt, dass das Dorf nun noch genau zwei Leute sucht, damit sich die Feuerwehr vom Nachbarort unabhängig machen kann. Er erzählt, dass die Zahl der Einwohner von 685 vor zwei Jahren auf nun 736 gewachsen ist, dass auch Berliner herziehen und ein Großteil der Leute im Ort nach Berlin zur Arbeit pendelt. Er selbst ist hauptberuflich in Berlin für die Organisation des Lebens in drei Demenz-Wohngemeinschaften verantwortlich. Er erzählt, dass sie im Ort dafür kämpfen, dass es einen Nachtzug aus der Hauptstadt gibt.
Das Credo seiner ehrenamtlichen Arbeit fasst er so zusammen: „Was müssen wir machen, damit es für die Leute schön ist, damit es ihre Heimat ist?“ Das Dorf ist seine Heimat. Er wurde angenommen mit seinem dortzulande eher ungewöhnlichen Leben. Aber kurz vor der Wahl habe es dann doch ein paar „hässliche Bemerkungen“ gegeben, es wurde Stimmung gemacht, weil er HIV-positiv ist. „Dabei war es allen bekannt“, sagt er. „Als ich meinen Mann in unserer Dorfkirche geheiratet habe, hat der Pfarrer im Traugottesdienst gesagt, dass wir uns bei einem Positiven-Treffen kennengelernt haben. Die einen wussten es bereits, die anderen haben getuschelt und erfahren, dass es sich dabei um Gruppen für HIV-positive Leute handelt.“ Er sagt, es sei eine sehr kleine Minderheit gewesen, die Stimmung gemacht habe. „Das war nicht die Haltung unseres Dorfes.“ Er sagt, die Krankheit sei doch gar nicht wichtig. „Sie qualifiziert mich nicht für diese Funktion, und sie disqualifiziert mich auch nicht.“
Natürlich empfindet er es nach Jahrzehnten der Aufklärung über Aids als unfair, dass manche glauben, so etwas noch instrumentalisieren zu können. „Niemand führt eine Debatte darüber, ob Kandidaten wirklich geeignet sind, wenn sie eine chronische Diabetes haben.“ Also machte Christ die Krankheit dann doch zum Wahlkampf-Thema – und wurde gewählt. „Nun bin ich halt der bundesweit erste offen HIV-positive Bürgermeister. Auch ein Alleinstellungsmerkmal.“ Auf der Fensterbank liegt die Auszeichnungsplakette eines Zuchtverbandes. „Die ist für unsere Schafe“, sagt er. Die 13 kleinen Tiere mit den großen Hörnern von gegenüber gehören ihm und seinem Mann. „Es sind Ouessantschafe“, erzählt er. Die bretonischen Zwergschafe, immerhin die kleinsten in Europa, waren vom Aussterben bedroht. Doch es fanden sich Züchter, die diese Tiere hobbymäßig halten und so die Art retteten. Christ erzählt, dass sie auf ihrem Hof auch Holländische Zwerghaubenhühner haben. „Sind auch vom Aussterben bedroht“, sagt er. „Wir halten nur Tiere, die bedroht sind.“ Für Thilo Christ ist das eine einfache und vor allem sehr klare Botschaft.