Blind Date mit Musik! Berlins Orchester-Stars geben jetzt Mikro-Konzerte für jeden
Ein Raum, zwei Stühle, ein Musiker, ein Zuhörer - das sind die Zutaten für die intimen „1:1 Concerts“, die es nun auch in Berlin gibt. KURIER-Reporter Florian Thalmann hat es ausprobiert.

Etwas unsicher betrete ich den leeren Theatersaal des Heimathafen in Neukölln. Das Licht ist an, der Blick geht zur Bühne. Zwei Stühle stehen dort. Der linke ist leer, auf dem rechten sitzt eine Frau mit Cello. Ich gehe auf die Bühne zu, das Licht wird gedimmt. Ein magischer Moment. Kurze Pause vor der Treppe, durchatmen. Dann steige ich hoch, setze mich auf den leeren Stuhl. Die Frau sieht mich an.
Nur wir beide sind im leeren Saal, es ist still – und mich erwartet ein Konzert, wie ich es nie wieder erleben werde. „1:1 Concerts“ heißt das Musikprojekt, initiiert zugunsten der Orchestermusiker, die wegen der Corona-Krise nicht spielen können. Die Idee: Ein Ort, zwei Stühle, ein Musiker, ein Zuhörer. Eine Minute Blickkontakt, dann Musik. Ein Blind Date der besonderen Art. Jeder kann sich kostenfrei anmelden, um Spenden für den Nothilfefonds der Orchester-Stiftung wird gebeten. Die Idee nahm in Thüringen ihren Anfang, hier organisierten Franziska Ritter (40) und Christian Siegmund (44) bei einem Festival erste 1:1-Konzerte. Nun kam die Corona-Krise, „und da passte das Format besser denn je“, sagt Ritter. „Wir sehen es als unseren Gegenentwurf zu diesem Virus“, sagt Siegmund. Die Idee, dass zwei Menschen im Rahmen des Mikro-Konzerts einen so intimen Moment miteinander erleben, setze in Zeiten der Distanz der Distanz etwas entgegen.
Das Konzert beginnt stumm. Eine Minute lang schauen die Musikerin und ich uns in die Augen. Es ist erst beklemmend, dann baut sich, es lässt sich schwer beschreiben, eine Verbindung auf. Sie nimmt ihr Cello – und spielt ein Stück von Bach. Der dunkle Klang, der leere Saal, die Zweisamkeit, all das ist völlig überwältigend. Ihr Konzert ist eine Achterbahn der Gefühle: Mal überwiegt die Faszination für ihr Spiel, dann fühlt es sich seltsam an, dann kommen Tränen, weil die Musik Gefühle aus den hinteren Ecken des Gehirns an die Oberfläche trägt.

Die junge Frau heißt Anne-Claire Dani, ist 24. Ich lerne sie nach dem Konzert kennen. Seit ihrem vierten Lebensjahr spielt sie Cello, erzählt sie. „Mit dem Instrument kann ich alles sagen und ausdrücken.“ Unterricht in der Jugend, nach dem Abi das Studium an der Hochschule für Musik in Saarbrücken, später eine Ausbildung an der Berliner UdK. Heute arbeitet Anne-Claire an der Deutschen Oper. Die Corona-Krise trifft sie. Als der Shutdown begann, hätte sie in der Oper spielen sollen. „Niemand hat damit gerechnet, dass die Situation so lange dauern wird.“ Warum sie nun die 1:1-Konzerte gibt? Musiker, ihre Existenzen, ihre Familien seien durch die Krise gefährdet. Mit den Spenden könne man etwas für jene tun, die in Schieflage geraten, sagt Anne-Claire. Hinzu kommt: Jedem Künstler fehlen die Auftritte, die Chance, andere glücklich zu machen.
Die Sorgen scheinen wie weggeweht, als sie spielt. Ein Stück, dann das nächste. Erst nach dem dritten lässt sie den Bogen sinken. Applaus und Sprechen – beides ist verboten. Wir stehen auf. Stumm nicke ich ihr zu. Sie hält sich die Hand an ihr Herz, und ich mache es ihr nach, weil ich nicht weiß, wie ich mich sonst bedanken kann. Dann gehe ich von der Bühne. Das Licht geht an, ich verlasse den Saal. Ich brauche ein paar Minuten, um wieder in der realen Welt anzukommen. So geht es vielen: 700 solcher Konzerte wurden in Deutschland bisher durchgeführt, in Berlin ist die Reihe gerade gestartet. Die ersten Termine sind ausgebucht, neue folgen. Anne-Claire will wieder mitmachen. Sie sagt: „Einen anderen Menschen auf diese Weise kennenzulernen, verändert die eigene Wahrnehmung.“