Der Berliner Genetiker Hans Lehrach an einer Sequenziermaschine. Mit solchen Geräten könnte man massenweise Tests auf das Coronavirus machen.
Der Berliner Genetiker Hans Lehrach an einer Sequenziermaschine. Mit solchen Geräten könnte man massenweise Tests auf das Coronavirus machen. Foto: Berliner Kurier/Markus Wächter

„Wir haben bereits jetzt die Werkzeuge in der Hand, um diese unerträgliche Situation zu beenden“, sagt der Berliner Forscher Hans Lehrach. Es sei möglich, die Ausbreitung des Coronavirus in kurzer Zeit und zu vergleichsweise geringen Kosten „zu eliminieren und zu unserem Leben vor der Pandemie zurückzukehren“. Der Genanalytiker hat eine Strategie entwickelt, wie man das Coronavirus loswerden könnte – und zwar ohne auf sehr lange Zeit mit Einschränkungen leben zu müssen. Und ohne auf eine Impfung zu warten. Denn die Entwicklung von sicheren Impfstoffen, die man natürlich unbedingt weiter vorantreiben müsse, könne Jahre dauern und unerwartete Probleme mit sich bringen, so Lehrach.

Im Kern geht es darum, hochmoderne Gen-Sequenziertechniken für flächendeckende Tests auf Sars-CoV-2 zu nutzen. In wenigen Monaten könnte die notwendige Infrastruktur dafür aufgebaut werden, betont Lehrach. In einem Artikel, den er mit dem US-Gentechniker George Church von der Harvard Medical School geschrieben hat, führt Lehrach aus, wie man vorgehen sollte.

Millionen Tests auf einmal

„Im Prinzip ist die Idee ganz einfach“, erklärt der Genetiker dem KURIER. „Wir schicken jedem Menschen in Deutschland etwa fünf Proberöhrchen. Jede Woche öffnet man eins, transferiert eine bestimmte Menge Speichel hinein und schickt es an eine zentrale Sammelstelle.“ In regionalen Analysezentren würden die Proben verarbeitet und sequenziert, sagt Lehrach. „Aus dem Resultat können wir herauslesen, wer im Moment das Virus hat und wer nicht.“ Die Betroffenen müssten in Quarantäne, bis sie nicht mehr ansteckend seien.

Um wirklich alle zu erfassen, müssten die Tests einige Male wiederholt werden, etwa fünf Wochen lang. Wenn dies flächendeckend geschehe, dann würde das Virus nach einiger Zeit aussterben, denn es gebe niemanden mehr, den es erreichen könne. „Wenn man allerdings nicht alle koordiniert testet, so wie es zurzeit geschieht, dann stecken die, die nicht getestet wurde, immer wieder neue Menschen an.“ In seiner Strategie gehe es dagegen um ein „Testen aller auf einen Schlag“, erläutert Lehrach.

„Der Vorteil an diesem Ansatz ist: Wir brauchen auf nichts zu warten. Wir können – nach entsprechenden Vorbereitungen – sofort anfangen. Es sollte sehr rasch gehen. Das Virus sollte innerhalb weniger Wochen verschwinden.“ Zumindest könnte man die Anzahl infizierter Personen „auf ein Niveau reduzieren, das durch Kontaktverfolgung gehandhabt werden kann“.

Foto: Berliner Kurier/Markus Wächter
Zur Person 

Hans Lehrach wurde 1946 in Wien geboren. Er arbeitete an der Harvard University, in Göttingen, Heidelberg und London, war Sprecher des deutschen Humangenomprojekts, in dem erstmals das Erbgut des Menschen kartiert wurde. Am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Dahlem leitete Lehrach eine Abteilung. Er gründete ein kleines, privates Forschungsinstitut, das Dahlem Zentrum für Genomforschung und Medizinische Systembiologie. In der Firma Alacris Theranostics, die er mitgründete,  wird in Sequenziermaschinen das Erbgut von Krebs-Patienten untersucht. Die hoch leistungsfähigen Geräte könnten auch der Bekämpfung der Corona-Pandemie dienen.

Was wie Utopie klingt, hat reale technologische Grundlagen. Der 73-jährige Genanalytiker Hans Lehrach gehört zu den führenden Genetikern weltweit. Er forscht am Dahlemer Max-Planck-Institut für molekulare Genetik und am Dahlem-Zentrum für Genomforschung und Medizinische Systembiologie. Vor einigen Jahren gründete er die Firma Alacris Theranostics mit, die im Wissenschaftspark Adlershof angesiedelt ist und bei der auch der Großteil der Entwicklungen zur Bekämpfung der Pandemie läuft. Dort werden in Sequenziermaschinen bereits jetzt massenhaft die Gene von Tumor-Patienten und Tumoren untersucht, um optimale Therapien zu finden.

Auf gleiche Weise könnte man das Erbgut – also die RNS – des Coronavirus nachweisen. „Wir haben eine enorme Sequenzierkapazität, die man nutzen sollte“, ergänzt Lehrach. Derzeit schafft Berlin zum Beispiel wöchentlich nur 58.000 Tests. Jeder PCR-Test auf Sars-CoV-2 müsse individuell durchgeführt werden. „Wir dagegen würden die Menschen ihre Tests selbst machen lassen. Wir würden den Empfang und die Handhabung der Röhrchen in den Testlabors weitgehend automatisieren – vor allem aber das Auslesen der Tests.“

Eine herkömmliche PCR-Maschine analysiere 96, maximal 384 Proben auf einmal. Hochleistungs-Sequenziermaschinen schafften dagegen in ein bis zwei Tagen etwa zwanzig Milliarden Lesevorgänge. Die Geräte sehen eher unspektakulär aus, wie ein Kopierer mit Bildschirmaufsatz. Rein technisch ließen sich mit solchen Geräten in einem Analysezentrum in kürzester Zeit Millionen Proben parallel verarbeiten.

Zurzeit allerdings gibt es noch keine Analysezentren und keine Automatisierung. Laborkräfte müssten die Proben per Hand einordnen. Wenn eine Person pro Minute zehn Röhrchen schafft, wären das immerhin in der Stunde 600 und in der Arbeitswoche mehr als 21.000. Man müsste viele Leute einstellen oder schnell Automatisierungslösungen finden, um Millionen Proben zu verarbeiten.

Lesen Sie alle aktuellen Entwicklungen zu Corona in unserem Newsblog >>

Nach Schätzungen der Forscher würden die Kosten für eine Analyse, die Logistik- und Investitionskosten eingeschlossen, „wenige Euros pro Test“ betragen – „ein minimaler Betrag angesichts des enormen wirtschaftlichen Verlusts, der sich bereits jetzt aufgrund der Notwendigkeit sozialer Distanzierung angesammelt hat“, unterstreicht Lehrach. Die Analyse selbst würde nur etwa zwei Cent kosten. Dies sei recht billig, verglichen mit den 60 Euro für einen PCR-Test.

Über Möglichkeiten, die Technologie möglichst breit anzuwenden, führt Lehrach derzeit erste Gespräche mit Verantwortlichen, über die er jedoch noch nicht reden will. Noch sei es zu früh dafür. „Aber machbar ist es“, fügt er hinzu. Es brauche zunächst eine Anschubfinanzierung, um alle Schritte zu testen. Dann könnte man die Strategie zunächst in einer Region ausprobieren, so Hans Lehrach, zum Beispiel in Berlin, um sie später auszuweiten. Dafür brauche es natürlich die Bereitschaft der Bürger zur Teilnahme. Außerdem erforderten die Massenproduktion und der Vertrieb von Test-Kits die Unterstützung der lokalen Behörden – und natürlich Geld.

Die Logistik wäre natürlich bei einer solchen Strategie eine Herausforderung. Wer verschickt Millionen Proben-Päckchen auf einmal? Wer stellt sicher, dass das Resultat jedes Virustests eindeutig der getesteten Person zugeordnet werden kann? Wer informiert die Betroffenen und das Gesundheitsamt über eine Infektion?

Eine Investition in die Zukunft

„Das einfachste wäre, die Gesundheitsämter organisieren die Verschickung der Teströhrchen“, bemerkt Lehrach. „Dann wissen sie auch, wer welches Röhrchen bekommen hat und erfahren damit auch sofort, wer infiziert ist.“ Allerdings gibt es Klagen über eine Überlastung der seit Jahren ausgebluteten Gesundheitsämter, etwa in Berlin. Sie schaffen kaum die herkömmlichen Tests und wären wohl nicht in der Lage, Millionen Teströhrchen zu verschicken. Man müsste also andere Wege finden.

Wenn die Proben fertig sind, sollen die Leute sie selbst in die Analysezentren senden. Jedes Röhrchen werde mit einem Barcode versehen, das der Nutzer mit seinem Smartphone scannt, sagt Lehrach. So könne gesichert werden, dass ihm die Probe später direkt zugeordnet wird - auch dann, wenn aus Datenschutzgründen keine zentrale Datenbank diese Information gespeichert haben sollte. Allerdings besitzt nicht jeder ein Handy. Man sollte den Menschen also die Wahl lassen, mit dem Päckchen auch Name, Adresse und Kontakttelefonnummer mitzuschicken.

Infizierten Personen könnten laut Lehrach über die Gesundheitsämter, ihr Handy oder die Kontakttelefonnummer informiert und in Quarantäne geschickt werden. Möglich sei eine Verknüpfung zwischen dem Proben-Barcode und dem einzelnen Smartphone über eine App.

Lehrach weiß, dass die Strategie nur funktioniert, wenn wirklich ganze Populationen durchgetestet werden, möglichst überall auf der Welt. Wenn es nur in einigen Teilen der Welt gelinge, müsse man an deren Außengrenzen sicherstellen, dass das Virus nicht wieder zurückkomme. Was allerdings weitere Einschränkungen bei Reisen und im Handel bedeuten würde. „Wenn wir das Virus weltweit ausrotten könnten, entweder durch diesen Ansatz, oder, sowie das möglich ist, durch eine Impfung, hätten wir das Problem nicht. Dabei könnte die WHO natürlich eine wichtige Rolle spielen.“

Lehrach: „In Anbetracht der Dringlichkeit sollten wir kollektiv imstande sein, innerhalb weniger Monate eine leistungsfähige Infrastruktur für populationsweite Tests aufzubauen sowie die dazu notwendigen Mittel zu stellen.“ Dies sei auch eine Investition für die Zukunft. Denn Corona werde nicht die letzte Pandemie sein, die die Menschheit erlebe.