Klischees bei „Winnetou II“, die Millionen Zuschauer geprägt haben: Terence Hill als Lieutenant Robert Merril an einem „Marterpfahl“, Pierre Brice als Winnetou.
Klischees bei „Winnetou II“, die Millionen Zuschauer geprägt haben: Terence Hill als Lieutenant Robert Merril an einem „Marterpfahl“, Pierre Brice als Winnetou. Imago Images/United Archives

In den sozialen Medien geht derzeit ein Gespenst um: Angeblich dürfe man nichts mehr sagen, ohne gecancelt zu werden. Eine Schar von woken Aktivisten, so die verbreitete Erzählung, wolle Begriffe, Vorträge und Bücher verbieten. Häme zieht das ZDF auf sich, das Kommentierende bittet, vom „I-Wort“ als „rassistisch geprägtem Begriff“ abzusehen – und das, obwohl im Fernsehprogramm „Indianer“-Filme laufen!

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Anlass der Wut-Debatte war die Entscheidung des Ravensburger-Verlages, zwei geplante Kinderbücher zurückzuziehen, die sich auf eine neue Verfilmung der Winnetou-Saga beziehen. Nicht nur Rechte, sondern auch frühere Spitzenpolitiker wie Sigmar Gabriel oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bekannten sich als Reaktion trotzig als Winnetou-Fans.

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Karl May wollte sich für die Existenz der „Indianer“ und ihre Menschenrechte einsetzen

Erfunden hat die Winnetou-Figur Karl May, ein Schriftsteller, der, anders als es häufig berichtet wird, weit gereist war. Im Orient reiste May bis nach Sumatra, und auch nach Amerika kam der Schriftsteller im Jahre 1908 auf dem Schiffsweg. Er verbrachte mehrere Wochen zwischen New York und Buffalo – zu einem Zeitpunkt, als er bereits drei erfolgreiche „Winnetou“-Romane sowie die „Old Surehand“-Erzählungen veröffentlicht hatte.

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Eine Büste des Schriftstellers im Karl-May-Museum in Radebeul
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Eine Büste des Schriftstellers im Karl-May-Museum in Radebeul

Die Amerika-Reise soll ihn dann zu „Winnetou IV“ inspiriert haben. Auch die Begegnung mit Menschen in Amerika veränderte nicht Mays weltfremden Blick auf die fantastischen, realitätsfernen Figuren seiner Erzählungen: Mit den Siedlern und Indigenen hatten diese wenig zu tun.

Auch der Indianer ist Mensch und steht im Besitze seiner Menschenrechte; es ist eine schwere Sünde, ihm das Recht, zu existieren, abzusprechen und die Mittel der Existenz nach und nach zu entziehen.

Karl May, „Ein Oelbrand. Erzählung aus dem fernen Westen“, 1883

Dennoch sind Mays Erzählungen nicht nur Fantasie, der Schriftsteller nimmt ausdrücklich Bezug auf Vertreibungen und Ermordungen ganzer Stämme, die ihm zu Ohren gekommen waren: „Auch der Indianer ist Mensch und steht im Besitze seiner Menschenrechte; es ist eine schwere Sünde, ihm das Recht, zu existieren, abzusprechen und die Mittel der Existenz nach und nach zu entziehen.“ Das schrieb May 1882, Jahrzehnte nach den Todesmärschen, bei denen Tausende Cherokee und Navajo starben. Bis zu sieben Millionen Indigene sollen insgesamt durch Krankheit, Krieg und Vertreibung ums Leben gekommen sein – ein Völkermord, wie Menschenrechtler später anklagten.

Als „Indianer“ bezeichnete sich zu der Zeit kein Angehöriger dieser Stämme, der Begriff beruht auf dem Missverständnis der Schiffsbesatzung unter Christoph Kolumbus, der 1492 neue Seewege nach Indien suchte – und auf Amerika stieß. Die ersten Menschen, die er auf dem amerikanischen Kontinent antraf, wurden so als „Indianer“ verballhornt. Viele der Indigenen, die seit Kolumbus’ Ankunft auf den Antillen und in Mittelamerika mit Europäern zusammentrafen, starben bald an eingeschleppten Seuchen, andere wurden vertrieben, versklavt, gedemütigt.

Siedler nannten Cherokee und Navajo „Rothäute“, um Angst vor Wilden zu verbreiten

Weiße Siedler hatten für die Fremden im eigenen Land oft nur Verachtung übrig. „Rothaut“ ist eines der Wörter, die Weiße aus Angst vor den Wilden in Kriegsbemalung hoch zu Ross fanden, die die Siedler bedrohten. Dabei waren die Indigenen ursprünglich meist Landwirte, die teilweise in Lehmhäusern wohnten. Pferde brachten erst die Europäer nach Amerika, wo die Vierbeiner bis dahin völlig unbekannt waren.

Die Europäer pflegten ihre Klischees über die „Native Americans“, wie sie heute offiziell genannt werden, doch auch diese Bezeichnung finden viele Indigene unpassend, die in bestimmten Zusammenhängen selbst das Wort „indian“ – also „indianisch“ – verwenden. So heißt der Verband, der die 574 staatlich anerkannten Stämme zusammenfasst, seit jeher: Bureau of Indian Affairs, also Büro für indianische Angelegenheiten – worauf auch der frühere USA-Korrespondent des ZDF, Elmar Theveßen, hinweist.

Es gibt ein Büro für indianische Angelegenheiten, aber was stimmt mit den „Indianer“-Klischees nicht?

Aber ist das wirklich ein gutes Argument dafür, den Begriff „Indianer“ nicht zu hinterfragen? Denn auch die romantisierende Darstellung der edlen Wilden zeigt Klischees, die viele Angehörige indigener Stämme vor den Kopf stoßen. Dazu gehören beispielsweise die Marterpfähle, an denen Feinde angeblich festgebunden werden. Tatsächlich errichten einige indigene Stämme im Nordwesten sogenannte Totempfähle, an die jedoch niemand festgeseilt qualvoll verendete – vielmehr zeigen die prunkvoll verzierten Hingucker die soziale Stellung bestimmter Angehöriger an. Viele derartige Klischees in den Karl-May-Büchern sind nichts anderes als Vorurteile oder Kokolores, der die Indigenen als Wilde darstellt, die mit Geheul und wilden Verrenkungen um ein Feuer tanzen.

Prunkvoll bemalte Totempfähle zeigen die soziale Stellung bestimmter Stammesangehöriger an. Niemand wurde hier festgebunden und gemartert.
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Prunkvoll bemalte Totempfähle zeigen die soziale Stellung bestimmter Stammesangehöriger an. Niemand wurde hier festgebunden und gemartert.

Selbst wenn sie gut gemeint sind – diese naiven Beschreibungen passen nicht zu Mays eigenen Worten, „Indianer“ als Menschen zu sehen. Auch wenn viele das behaupten: Niemand will Karl-May-Bücher verbieten. Aber sich Gedanken darüber zu machen, ob es heute noch zeitgemäß ist, Menschen als edle oder gefährliche Wilde darzustellen – ohne Karl Mays Bücher oder historische „Winnetou“-Filme zu verbieten –, hat nichts mit Cancel Culture zu tun, sondern mit Fortschritt.