Corona-Pandemie

Virologen um Christian Drosten warnen vor Durchseuchungsplänen

Ein Gremium um den Charité-Forscher Christian Drosten warnt, dass es bei einer Verfolgung dieser Strategie zu einer humanitären und wirtschaftlichen Katastrophe kommen könne.

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Der Berliner Virologe Christian Drosten ist einer der Autoren, die sich gegen Durchseuchungspläne stark machen.
Der Berliner Virologe Christian Drosten ist einer der Autoren, die sich gegen Durchseuchungspläne stark machen.dpa/MIchael Kappeler

Die Gesellschaft für Virologie mahnt ein wissenschaftlich begründetes Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie an und wendet sich in diesem Zusammenhang entschieden gegen Strategien, die auf natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile setzen. „Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen“, heißt es in einer am Montagnachmittag veröffentlichen Stellungnahme des Vorstands der deutschen Gesellschaft für Virologie.

Namentlich als Autoren aufgeführt sind in dem Papier außer dem Chef der Charité-Virologie Christian Drosten renommierte Forscherinnen und Forscher wie Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Isabella Eckerle vom Universitätsklinikum Genf, Beate Sodeik von der Medizinischen Hochschule Hannover, Friedemann Weber von der Universität Gießen und Marco Binder vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

Kritik an der Great Barrington Declaration

Ein Anlass zur Sorge der Virologen ist die Anfang Oktober veröffentliche sogenannte Great Barrington Declaration, deren Unterzeichner sich für die sofortige Aufhebung aller Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens aussprechen, einschließlich aller Abstandsregeln und der Maskenpflicht. Initiiert wurde die Erklärung von zwei Wissenschaftlern aus den USA und einer Wissenschaftlerin aus dem Vereinigten Königreich. Anstelle bevölkerungsweiter Strategien plädieren die Initiatoren für einen gezielten Schutz älterer Menschen, um eine hohe Anzahl Todesfälle zu verhindern - währenddessen der Großteil der Menschen ein normales Leben führen können soll, um dem Ziel der Herdenimmunität näher zu kommen. Konkrete Ideen, wie ein derartiger Schutz der älteren Bevölkerung besser als bisher ausgestaltet werden soll, fehlen jedoch.

„Wir lehnen diese Strategie entschieden ab, obwohl wir selbstverständlich die enorme Belastung der Bevölkerung durch die einschneidenden Eindämmungsmaßnahmen anerkennen“, schreiben die deutschen Virologen um Brinkmann und Drosten. Ihnen sei bewusst, dass auch die Gesundheitsversorgung in anderen, nicht mit Covid-19 assoziierten Bereichen unter den Einschränkungen leide, die zur Abmilderung der Pandemie verhängt wurden. „Dennoch sind wir überzeugt, dass die Schäden, die uns im Falle einer unkontrollierten Durchseuchung unmittelbar aber auch mittelbar drohen, diese Belastungen um ein Vielfaches überträfen und in eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe münden können“, betonen die Experten.

Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, da selbst bei strenger Isolierung der Ruheständler es noch weitere Risikogruppen gibt, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt sind, um aktiv abgeschirmt werden zu können.

Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie vom 19. Oktober 2020

Bestärkt in dieser Haltung fühlen sie sich durch eine andere Erklärung, die am 14. Oktober in der medizinischen Fachzeitschrift „Lancet“ als Antwort auf die Great Barrington Declaration veröffentlicht wurde: das John Snow Memorandum. Darin raten zahlreiche internationale Experten mit Nachdruck von der Verfolgung der in der Great Barrington Declaration propagierten Strategie ab.

„Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, da selbst bei strenger Isolierung der Ruheständler es noch weitere Risikogruppen gibt, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt sind, um aktiv abgeschirmt werden zu können“, warnen die Forscher um Brinkmann und Drosten. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf ergebe sich beispielsweise bei Übergewicht, Diabetes, Krebserkrankungen, einer Niereninsuffizienz, chronischen Lungenerkrankungen, Lebererkrankungen, Schlaganfall, nach Transplantationen und während einer Schwangerschaft.

„Eine mögliche Komplikation einer überstandenen Covid-19-Erkrankung stellt auch das sogenannte Long-Covid-Syndrom dar, das verschiedene Spätschäden an Atemwegen, Gefäßen, dem Nervensystem oder anderen Organen zusammenfasst, welche die Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und vermutlich auch Lebenserwartung enorm einschränken“, heißt es in der Stellungnahme.

Die Haltung der Mehrheit - und abweichende Auffassungen

Dazu sei noch nicht zuverlässig geklärt, wie lange eine durch Infektion erworbene Immunität anhalte. „Es wird zunehmend klar, dass gerade die wenig symptomatischen Infektionen, wie sie bei jüngeren Menschen vorherrschen, keine stabile Immunität verleihen“, heißt es. Der Vorstand der Gesellschaft für Virologie unterstütze daher ausdrücklich die Position der Unterzeichner des John Snow Memorandums und halte das Anstreben der Herdenimmunität ohne Impfung für unethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant.

Die Autoren der Stellungnahme erklären, „abweichende Haltungen, die einzelne KollegInnen in den Medien und sozialen Netzen vertreten“ zu respektieren. Wie sie schreiben, schließen sie allerdings aus zahlreichen Gesprächen und E-Mails, mit ihrer jetzt veröffentlichten Stellungnahme „die Haltung der Mehrheit der virologisch und ärztlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätigen Mitglieder der Gesellschaft für Virologie“ zu repräsentieren.

Eine dieser abweichenden Auffassungen vertritt hierzulande zum Beispiel der Leiter des Gesundheitsamts in Frankfurt am Main, René Gottschalk. Er hatte jüngst in einem Beitrag im Hessischen Ärzteblatt die Sinnhaftigkeit der derzeitigen Maßnahmen infrage gestellt und die Frage aufgeworfen, ob „bei auf längere Sicht fehlenden Impfmöglichkeiten weiterhin die Verhütung aller, auch asymptomatischer Infektionen das Ziel bleiben“ sollte. Sein Vorschlag lautete, zunehmend die Schutzstrategie für vulnerable – also anfällige – Gruppen in den Fokus zu nehmen.

Wann ist das Gesundheitssystem überlastet?

Die Virologen um Brinkmann und Drosten gehen in ihrer Stellungnahme auch auf die aktuelle Entwicklung ein. In Deutschland sei derzeit der erneute Beginn einer exponentiellen Ausbreitung von Sars-CoV-2 Infektionen zu beobachten, heißt es in der Stellungnahme. Obwohl sich der Großteil des Infektionsgeschehens derzeit in jüngeren Altersklassen abspiele, die von den gesundheitlichen Folgen von Covid-19 zumeist deutlich weniger betroffen seien als ältere, sehe man überall eine Zunahme an Krankenhauseinweisungen und ein stetiges Vordringen der Infektionen in höhere Altersgruppen. „Aufgrund der explosiven Infektionsdynamik, die wir in allen Hotspots quer durch Europa feststellen, steht zu befürchten, dass ab einer bestimmten Schwelle auch in bisher unkritischen Regionen die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren geht“, warnen die Experten.

„Es steht zu erwarten, dass dies zu einer raschen Überlastung der Gesundheitssysteme führen würde, was zum Beispiel in Deutschland allein schon wegen des Mangels an Intensivpflegekräften bereits bei weit unter 20.000 Neuinfektionen pro Tag der Fall sein könnte“, heißt es. Hierunter werde nicht nur die Behandlung von Covid-19 Patienten, sondern die gesamte medizinische Versorgung leiden.

Den Mangel an Fachpersonal in der Pflege beklagten am Montag auch Experten in einem Pressegespräch des Science Media Center Germany. Deutschland habe zwar große Kapazitäten an Klinikbetten, auch im Intensivbereich, sagte Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin in der Klinik Schwabing im München. „Aber es muss auch die Menschen hinter den Maschinen geben“, sagte er mit Blick auf Beatmungsgeräte.

Wir sollten wachsam sein, aber nicht panisch.

Clemens Wendtner, Klinik Schwabing, München

Immerhin ist es zurzeit in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern so, dass der Anteil der Corona-Patienten, die ins Krankenhaus müssen, bislang deutlich geringer ist als im Frühjahr. Während hierzulande im Frühjahr bei etwa 20 Prozent der gemeldeten Infektionen ein Krankenhausaufenthalt notwendig war – in Frankreich lag die Rate sogar bei bis zu 70 Prozent –, seien zurzeit in Deutschland und den Nachbarländern nur 3 bis 6 Prozent der Fälle in stationärer Behandlung, berichtete Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin. „Die bislang vorhersehbaren Anstiege der Hospitalisierung wegen Corona werden das Gesundheitssystem hierzulande nicht überfordern“, schließt er daraus. Trotz aller Kapazitäten sei es jedoch wichtig, jetzt die Dynamik des Infektionsgeschehens zu brechen.

Clemens Wendtner betonte, dass die Kliniken hierzulande so gründlich vorbereitet seien, dass sie schnell die Kapazitäten ausweiten und die Patienten gut versorgen könnten. „Wir sollten wachsam sein, aber nicht panisch“, sagte er. Nun komme es allerdings vor allem auf die Bevölkerung an, damit die Situation auch in den anstehenden Wintermonaten beherrschbar bleibe. Mit Blick auf die Corona-Maßnahmen sei eine gewisse Müdigkeit zu beobachten, sagte der Münchener Mediziner: „Wir müssen die Bevölkerung weiterhin motivieren, die einfachen Regeln zum Schutz einzuhalten.“