In einer Straßenbahn in Zürich fuhr ein Toter sechs Stunden mit – und keiner hat es gemerkt.
In einer Straßenbahn in Zürich fuhr ein Toter sechs Stunden mit – und keiner hat es gemerkt. IMAGO/Geisser

Auf dem Weg zur Arbeit bricht ein 64-Jähriger in der Straßenbahn zusammen. Keiner merkt es. Auch Stunden später fährt der Tote noch durch Zürich, bis eine Passantin stutzig wird. Der Fall erschüttert derzeit die Schweiz. Wie schlecht ist es um unsere Zivilcourage bestellt?

Um 6.21 Uhr am Morgen war der Mann in die Straßenbahn gestiegen. Rund 30 Minuten später hätte er aussteigen sollen. Doch dazu kam es nicht. „Mein Vater erlitt im Tram einen Herzstillstand“, erklärt ein Kind des Toten in der Online-Ausgabe der Schweizer Zeitung „20 Minuten“. Filmaufnahmen zeigen, wie der Mann nach wenigen Stationen zusammenbricht. Besonders schockierend für den 40-jährigen Sohn: „Weder dem Tramchauffeur noch den anderen Passagieren fiel etwas auf. Mein Vater fuhr stundenlang leblos im Tram mit.“

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Erst gegen Mittag habe eine Mit-Passagierin mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. „Sie informierte den Fahrer und er schließlich den Notruf“, so der Sohn. Doch da war es längst zu spät. Die Rettungskräfte konnten nur noch den Tod des 64-Jährigen feststellen.

Zivilcourage ist auch in Deutschland nicht gerade ausgeprägt

Melanie Wegel ist Dozentin am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und gibt Kurse zum Thema Zivilcourage. Für Wegel ist das Geschehene laut „20 Minuten“ ein tragischer Einzelfall: „Sechs Stunden ist eine sehr lange Zeit. Mir ist kein ähnlicher Fall bekannt.“ Wegel sagt aber auch: „Vielen Menschen fehlt es heutzutage an Zivilcourage. Die Leute glauben, sie müssten nicht helfen und ein anderer wird sich schon drum kümmern.“

Doch was hält uns eigentlich ab, in Situationen einzugreifen, in denen jemand mehr oder weniger offensichtlich Hilfe braucht? Auch in Deutschland schauen Leute lieber weg, als im Notfall zu helfen. Anna Baumert, die die Forschungsgruppe „Zivilcourage“ am Max-Planck-Institut leitet, hat dazu ihre ganz eigene Theorie: „Bei zivilcouragiertem Handeln besteht zweifellos die Gefahr, jemanden fälschlicherweise zu beschuldigen – und sich damit selbst in eine peinliche Situation zu bringen. Einschreiten kann genauso ein Fehler sein wie Nichteingreifen. Man muss sich letztlich fragen, welche Folgen welcher ‚Fehler‘ hat.“

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Was also tun, wenn man unsicher ist? „Es geht nicht darum, den Helden zu spielen – schon eine umsichtige Reaktion kann helfen! Schauen Sie nicht weg, seien Sie aufmerksam“, rät die deutsche Bundespolizei zum Thema Zivilcourage. Genau das hätte dem Mann in der Schweiz vielleicht schon helfen können. Wäre sein Zusammenbruch unmittelbar erkannt und gemeldet worden, hätte man ihm vielleicht noch helfen können.