Interview mit ARD-Intendant : Tom Buhrow: Die ARD hatte zu viel westdeutsche Schlagseite
Der ARD-Intendant Tom Buhrow über Akzeptanz-Probleme der Medien und die Rolle der Sender in Ostdeutschland.

Tom Buhrow, der Intendant der ARD, zeigt Verständnis für die Kritik an den Medien. Die öffentlich-rechtlichen Sender wollen künftig bei ostdeutschen Themen sensibler ans Werk gehen. Er hofft auf eine Erhöhung der Rundfunkbeiträge–über deren Schicksal ironischer Weise ein ostdeutsches Bundesland entscheidet.
Berliner KURIER: Herr Buhrow, was glauben Sie? Wird die für 2021 vorgesehene Erhöhung des Rundfunkbeitrags von derzeit monatlich 17,50 Euro auf 18,36 kommen?
Tom Buhrow: Ich gehe davon aus.
Noch gibt es aber im sachsen-anhaltischen Landtag für eine Beitragserhöhung keine Mehrheit. Und wenn auch nur ein einziges Bundesland sich gegen einen höheren Beitrag ausspricht, ist die Sache vom Tisch.
Deshalb ist in Sachsen-Anhalt noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Ich hoffe, dass die Abgeordneten dort erkennen, dass eine Beitragserhöhung im Interesse ihres Landes ist, wo es mit dem MDR eine fantastische Landesrundfunkanstalt gibt. Zudem könnte es mit den Reformen, die sie sich dort für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wünschen, nach einer Ratifizierung der Beitragsanpassung so richtig losgehen.
An welchen Punkten hakt es denn konkret?
Ich will nicht die Motivation der einzelnen Abgeordneten interpretieren. Aber es ist ja bekannt, dass die CDU-Fraktion mit einer Zustimmung zögert. Zunächst hieß es, in Ostdeutschland gebe es kaum Gemeinschaftseinrichtungen von ARD und ZDF. Zudem komme der Osten im Programm zu selten vor. Die Botschaft ist angekommen. Wir haben uns dieser Probleme angenommen. Nun jedoch geht es um weiter gehende Reformen, es geht um Dinge wie den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auch darüber lässt sich reden, nur kann man diesen Punkt nicht mit der Beitragsanpassung verknüpfen.
Kann es sein, dass es im Osten allgemein eine geringere Akzeptanz der Öffentlich-Rechtlichen gibt als im Westen?
Alle Studien zeigen, dass unsere Glaubwürdigkeit dort zwar niedriger ist als im Westen, aber immer noch sehr hoch. Es gibt Skepsis gegenüber den Medien, das betrifft auch Zeitungen und Zeitschriften. Was unsere überregionalen Nachrichten angeht, finden allerdings manche, dass der Blick erst dann auf ihre Region gerichtet werde, wenn es dort Negatives zu berichten gibt wie etwa Pegida-Aufmärsche oder wirtschaftliche Probleme. Auch wenn dies nicht stimmt, kann ich den Unmut nachvollziehen. Dies war einer der Gründe, weshalb wir die „Tagesthemen“ verlängert haben, um unabhängig von der Aktualität aus allen Regionen Deutschlands zu berichten.

Zur Person
Der Journalist Tom Buhrow ist Intendant des WDR und seit Anfang 2020 ARD-Vorsitzender. Zu Beginn seiner Amtszeit als Chef des Senderverbundes kündigte der 62-Jährige an, mehr Gemeinschaftseinrichtungen der Öffentlich-Rechtlichen in Ostdeutschland ansiedeln zu wollen.
Der studierte Historiker machte schnell Karriere, die ihn nach Stationen als „Tagesschau“-Redakteur sowie als Korrespondent in Paris und Washington 2006 zu den „Tagesthemen“ führte, deren Anchorman er wurde. Diesen Posten gab er 2013 auf, um in die WDR-Intendanz zu wechseln.
Müsste man die Beitragsdebatte nicht dazu nutzen, um den Ostdeutschen noch weiter entgegenzukommen?
Wir müssen uns da ständig verbessern. Zu Beginn des ARD-Vorsitzes habe ich gesagt, dass wir als ARD noch gesamtdeutscher werden müssen. Das betrifft Gemeinschaftseinrichtungen, die tatsächlich weitgehend ihren Sitz im Westen haben. Es betrifft aber auch unser Erscheinungsbild. Bis in die jüngste Vergangenheit hatten wir selbst bei unverdächtigen Themen wie dem Ladenschluss westdeutsche Schlagseite: Dann wurde geschaut, wo die zuständige Gewerkschaft und der zuständige Arbeitgeberverband ihren Sitz haben, um dort zu drehen. Danach suchte man ein Beispiel wie den Bäckerladen oder das Kaufhaus um die Ecke. Wer als erster „hier!“ rief und die größten Ressourcen hatte, bekam den Zuschlag. Das waren meist westdeutsche Redaktionen. Unsere erste Sondersendung zu Beginn der Corona-Krise, die an sich sehr gut war, spielte auch nur im Westen. Mir war das erst gar nicht aufgefallen. Die MDR-Intendantin Karola Wille wies mich darauf hin.
Sie haben darauf mit der bereits erwähnten Verlängerung der „Tagesthemen“ reagiert. Gab es weitere Maßnahmen?
Wir haben die Gründung eines digitalen ARD-Kulturangebots beschlossen, das seinen Sitz im Sendegebiet des MDR haben wird, bei dem auch die Federführung liegt. Und wir haben entschieden, dass Oliver Köhr vom MDR vom 1. Mai 2021 an neuer ARD-Chefredakteur wird.
Was passiert, wenn die Beitragserhöhung nicht kommt?
Dann müssen sich alle Landesrundfunkanstalten bis zu einer endgültigen Klärung mit den auf sie zukommenden Haushaltslöchern auseinandersetzen. Das gilt dann selbstverständlich auch für den MDR.
Wie viel Geld würde den Sendern dann fehlen?
Insgesamt 1,8 Milliarden Euro. Da wir keine Kredite aufnehmen dürfen, müssten wir Kosten reduzieren. Das würde sich auf das Programm auswirken. Allein der MDR müsste nach Berechnungen seiner Intendantin mehr als 160 Millionen Euro einsparen. Das entspricht in etwa den Kosten eines Landesfunkhauses …
… von denen es in Sachsen-Anhalt – zumindest noch – zwei gibt. Würde die von ihnen erwähnte Kulturplattform, die nach unseren Informationen im sachsen-anhaltischen Halle angesiedelt werden soll, auch kommen, wenn die Beitragserhöhung ausbleibt?
Das würde sie nicht, weil uns ohne Beitragserhöhung dafür das Geld fehlt.
Werden Sie vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, wenn der Rundfunkbeitrag nicht erhöht wird?
Das kann die ARD nicht, das können nur die neun ARD-Landesrundfunkanstalten, das ZDF und Deutschlandradio. Einige dieser elf Anstalten haben bereits angekündigt, nach Karlsruhe gehen zu wollen. Ich möchte unsere Kritiker lieber überzeugen. Aber klar ist auch: Wir befinden uns in einem von der Verfassung geschützten Raum.
Wie schätzen Sie die Akzeptanz einer Beitragserhöhung beim ganz normalen Zuschauer ein?
Es kommt darauf an, wen man fragt. Sozial Schwächere, für die 86 Cent Mehrbelastung im Monat, also 10,32 im Jahr, viel Geld ist, können sich vom Beitrag befreien lassen. Einige möchten gar keine Beitragsanpassung. Und andere sagen, das ist nicht das Thema, und wollen lieber über Inhalte sprechen. Die Mehrheit der Deutschen hört und sieht gerne unsere Programme. Das hat sich gerade in der Corona-Zeit bestätigt.
Woran machen Sie das fest?
Am Feedback des Publikums, an den Nutzungszahlen im Internet, den Hörfunkreichweiten, den Einschaltquoten, den Abrufzahlen unserer Mediathek und an Glaubwürdigkeitsstudien, die wir erheben. In der Corona-Krise haben alle Qualitätsmedien enormen Rückenwind gehabt, weil die Menschen in schwierigen Zeiten sich vertrauenswürdigen Quellen zuwenden.
Es gibt aber auch ein gegenläufiges Phänomen: Den etablierten Medien im Allgemeinen und den Öffentlich-Rechtlichen im Besonderen schlägt gerade während der Pandemie Hass entgegen. In den Niederlanden musste gar der öffentlich-rechtliche Sender NOS die Senderkennung von seinen Ü-Wagen entfernen, weil diese ständig attackiert wurden.
Das richtet sich nicht nur gegen die Öffentlich-Rechtlichen …
… was wir auch nicht behauptet haben.
Ich will der Frage aber nicht ausweichen, was dieses Phänomen für die Medien bedeutet. Wir stehen wegen des Internets an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Als der Buchdruck erfunden wurde, ging das Wissensmonopol der Mönche verloren, die bis dahin Bücher kopierten, übersetzten und interpretierten. Vor einer vergleichbaren Situation stehen wir heute. Wir, die Journalisten, haben die Deutungshoheit zumindest zum Teil verloren. Manche Menschen stört es, dass es uns als „Gatekeeper“, als „Schleusenwärter“, überhaupt noch gibt.
Stört die Leute aber nicht auch, dass die etablierten Medien immer weniger zwischen Nachricht und Kommentar, Stichwort Haltung, trennen?
Sie sprechen mir aus der Seele. Zuschauer und Zuhörer haben sehr fein eingestellte Geigerzähler, die es ihnen ermöglichen, herauszuhören, ob sie neutral informiert werden oder nicht. Je deutlicher wir zwischen Nachricht und Meinung trennen, umso mehr nutzt das unserer eigenen Glaubwürdigkeit. Der Trend geht aber leider in eine andere Richtung. Es gibt Phänomene wie den gnadenlos subjektiven Medienblogger Rezo, der sich großer Beliebtheit erfreut. Aber für uns als Öffentlich-Rechtliche ist unabhängig davon, wohin der Trend geht, die Trennung zwischen Nachricht und Meinung essentiell.
Manche Leute glauben, wir Journalisten bekämen Anweisungen aus dem Kanzleramt. Ist es vor diesem Hintergrund klug, Christine Strobl, die als Chefin der ARD-Film-Tochter Degeto hervorragende Arbeit leistet, zur ARD-Programmdirektorin zu machen? Schließlich ist Frau Strobl nicht nur CDU-Mitglied und Ehefrau des baden-württembergischen Innenministers Thomas Strobl, sondern auch die Tochter von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.
Politische Überzeugungen sind für Christine Strobl Privatsache. Sie sagt, sie habe das immer vom Beruflichen getrennt und werde das auch weiterhin tun. Kann man eine Frau wegen des politischen Engagements ihres Vaters und ihres Ehemanns mit einer Einschränkung ihrer beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten belegen?
Bisher hatte Frau Strobl nur mit fiktionalen Stoffen zu tun. Als ARD-Programmdirektorin wird sie auch für journalistische Programme verantwortlich sein. Auch wenn der Fall nur bedingt vergleichbar ist: Die einstige Focus-Redakteurin Doris Köpf zog sich aus dem Journalismus zurück, als sie 1997 den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder heiratete.
Der Vorvorgänger von Frau Strobl als ARD-Programmdirektor, Günter Struve, war zuvor Willy Brandts Redenschreiber. Hätten Sie ihm diese Frage auch gestellt?
Struve wurde 1992 in die ARD-Programmdirektion berufen. Das war damals noch problemlos möglich. Heute müsste er sich ähnliche Fragen anhören wie derzeit Frau Strobl. Hat denn Frau Strobls familiäres Umfeld bei ihrer Berufung überhaupt eine Rolle gespielt?
Ja, das wurde besprochen. Aber die Professionalität, mit der sie ihre bisherigen beruflichen Stationen absolviert hat, sprachen ganz eindeutig für sie.
Laut dem aktuellen Digitalisierungsbericht Video erreichen ARD und ZDF mit ihren Mediatheken 36,6 Prozent der Deutschen, während der gebührenpflichtige Wettbewerber Netflix mit 32,2 Prozent hierzulande nur unwesentlich weniger Menschen erreicht. Bei den 14- bis 29-Jährigen ist Netflix mit 74 Prozent den öffentlich-rechtlichen Anbietern schon weit enteilt, die in dieser Zielgruppe nur auf 40,7 Prozent kommen.
Netflix konzentriert sich im Gegensatz zu uns vor allem auf fiktionale Stoffe. Unsere Mediathek steckt zwar nicht mehr in den Kinderschuhen, aber Sie haben recht: Wir müssen besser werden, was unsere digitale Verbreitung angeht. Wir haben bereits im letzten Jahr fünf digitale Bereiche identifiziert, unter ihnen auch die Mediathek, die wir stärken wollen. Das ist nicht leicht: Netflix wächst und hat Geld, um ins Produkt zu investieren. Wir müssen hingegen Mittel umschichten. Wir haben mit dem ehemaligen Funk-Chef Florian Hager einen Channelmanager für die Mediathek. Sie ist im Begriff, ein eigenes Medium zu werden.
Wir haben dennoch den Eindruck, dass Sie mitunter attraktive Inhalte nicht vorab in der Mediathek zeigen, um das lineare Fernsehen zu schützen. Bestes Beispiel ist die dritte Staffel von „Babylon Berlin“, die erst zeitgleich mit der linearen Ausstrahlung in die Mediathek kam.
Ja, aber danach konnten sie gleich mehrere Folgen in der Mediathek sehen, die linear noch nicht gelaufen waren. Das ist schon ein Fortschritt zur ersten und zweiten Staffel, als wir zwischenzeitlich Folgen wieder aus dem Netz nehmen mussten, weil das Rechtepaket, das wir besaßen, nicht mehr hergab. Bei der dritten Staffel hatten wir nach wenigen Tagen mehr als zehn Millionen Abrufe in der Mediathek. Das ist sensationell. Die klassische Einschaltquote ging dagegen zurück.
Die vierte Staffel wird dann zuerst in der Mediathek zu sehen sein?
Das müssen wir noch klären. Ganz klar, wir wollen digital besser werden. Aber wir sind schon unterwegs und machen immer mehr Fortschritte.
Zum Schluss noch eine Frage zum Radio: Gibt es so etwas wie eine ARD-Hörfunkstrategie?
Der Hörfunk ist – abgesehen von Deutschlandradio – föderal organisiert. Das macht eine nationale Strategie schwierig. Aufgrund der Budgetzwänge müssen wir aber im Hörfunk immer mehr kooperieren. Das geschieht stets auf freiwilliger Basis, beispielsweise beim Nachtprogramm der Infowellen.
Viele Anstalten haben die Etats ihrer Kulturwellen gekürzt, aktuell tut dies der RBB. Spricht man dort mit den Redakteuren, erzählen sie einem von ihrer Furcht vor einem Mantelprogramm für alle ARD-Kulturwellen. Können Sie ausschließen, dass so etwas kommt?
Davon ist in der ARD noch nie die Rede gewesen – weder auf Intendantenebene noch auf der Ebene der Programmdirektoren. Überlegungen in eine solche Richtung gibt es nicht.