Deutscher Chronist schubst Bergsteiger-Legende Reinhold Messner vom Gipfel des Annapurna
Den höchsten Punkt eines Berges zu finden, war vor GPS mitunter nicht so einfach. Wer war wirklich auf den Gipfeln aller 14 Achttausender? Offenbar nicht jeder, der das behauptet, wie jetzt herauskam.

Manaslu, 8163 Meter hoch, die Nummer acht der 14 mehr als 8000 Meter hohen Berge der Welt. Der deutsche Bergsteiger Ralf Dujmovits (60) war oben, 2007. Blauer Himmel über dem Himalaja, aber stürmische Verhältnisse mit herumwirbelnden Eiskristallen, wie er erzählt. „Ich war zu 100 Prozent überzeugt, am höchsten Punkt gewesen zu sein“, sagt er, „was sich aber dann als Irrtum herausgestellt hat. Ich hatte den allerhöchsten Punkt einfach nicht gesehen.“ Muss dem einzigen Deutschen, der laut Statistik alle 14 Achttausender schaffte, nun einer aberkannt werden?
Lesen Sie auch: Einfach satt essen – und trotzdem abnehmen: Diese 10 Lebensmittel haben quasi null Kalorien
Für den bei Bergsteigern eigentlich geschätzten Himalaja-Chronisten Eberhard Jurgalski aus Lörrach ist die Sache klar: „Der Gipfel ist der höchste Punkt eines Berges, der erreicht werden kann – Punkt.“ Wer nicht dort war, sei auch kein Gipfelbezwinger. Deshalb hat er die Liste derjenigen, die alle 14 Achttausender geschafft haben, zusammengestrichen. Von einst 44 Männern und Frauen sind Mitte Juli 2022 noch drei übrig: Der Amerikaner Ed Viesturs, der Finne Veikka Gustafsson und der Nepalese Nirmal Purja Pun Magar. Dujmovits und Bergsteiger-Legende Reinhold Messner sind raus.
Lesen Sie auch: Steckdose richtig reinigen: Mit diesem Trick gelingt es Ihnen ganz einfach!

„Der Gipfel ist der höchste Punkt eines Berges – Punkt.“
Ja, wo ist denn der Gipfel? Bei einigen Achttausendern ist die Frage gar nicht so leicht zu beantworten, oder der höchste Punkt ist schwer zu erreichen. Am Shishapangma, 8027 Meter hoch und Nummer 14, gibt vor dem Gipfel einen etwa 100 Meter langen superschmalen Grat mit fast senkrecht Hunderte Meter abfallenden Hängen auf beiden Seiten. Viesturs stand 1993 davor und kehrte um. Zu gefährlich. Aber er kehrte acht Jahre später zurück, bewältigte den heiklen Grat rittlings, ein Bein auf jeder Seite, und schaffte es so, wie er der New York Times 2021 erzählte.

Auf dem Dhaulagiri (8167 Meter, Nummer sieben) verleitet ein Metallstab 140 Meter vor dem Gipfel viele Bergsteiger zu der Annahme, sie wären am höchsten Punkt. Auf dem Manaslu, 8163 Meter hoch und Nummer acht, gibt es hinter der Stelle, an der die meisten Expeditionen stoppen und Gipfelfotos machen, zwei Punkte, die höher liegen, von dort aber nicht zu sehen sind. Spektakuläre Drohnenaufnahmen des Fotografen Jackson Groves zeigen eindeutig, wo der höchste Punkt ist.
Lesen Sie auch: Schmelzender Gletscher gibt nach 54 Jahren Flugzeugwrack frei >>
Messner stürzte wegen des Annapurna, 8091 Meter hoch und Nummer zehn, von Jurgalskis Olymp der Achttausender-Bezwinger. Der Südtiroler war 1985 da, bei schlechtem Wetter. In seinen Büchern beschrieb er, wie er und Hans Kammerlander die Spitze erreichten, dort einmal kurz die Wolkendecke aufriss und sie das Basislager sehen konnten. Das kann nicht sein, sagen Jurgalski und sein Team. Sie haben 2016 Digitaldaten des Gipfels vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt erhalten und Gipfelfotos aus verschiedensten Winkeln ausgewertet. Sie kommen zu dem Schluss: Am Annapurna ist kein Basislager vom Gipfelpunkt aus zu sehen. Jurgalski: „Messner war an einem Punkt 65 Meter vor und fünf Meter unter dem Gipfel.“
Bergsteiger-Legende Reinhold Messner ist sauer
Messner schäumt wegen der neuen Klassifizierung. Er hält es zwar für möglich, dass er auf dem Gipfelgrat des Annapurna „nur“ eine Stelle ein paar Meter unterhalb des Gipfels erreichte. Aber: „Damals gab es noch kein GPS.“ Der Gipfel sei nicht markiert gewesen. „Kein Bergsteiger würde so kurz vor dem Ziel bewusst nicht weitergehen.“ Ob er ein paar Meter unter dem Gipfel blieb, sei irrelevant. Sie hätten als Erste die schwierigste Wand zum Gipfel durchstiegen. „Ich für meinen Teil war oben – und das nimmt mir niemand.“

Auch der Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner, die als erste Frau ohne zusätzlichen Sauerstoff alle Achttausender bestieg, fehlen nach Jurgalskis Liste zwei Gipfel.
Lesen Sie auch: Tipps für den Urlaub: Auf zur letzten Ferienfahrt! Von Arkona bis Zittau – der Osten ist eine Reise wert >>
Körperliche und mentale Erschöpfung, schlechte Sicht oder Sorge vor dem Abstieg machten akkurate topografische Betrachtungen auf über 8000 Metern Höhe schwierig, schrieb ein Mitstreiter Jurgalskis, Bergsteiger Damien Gildea, 2020 im Magazin des American Alpine Club. Trotzdem: „Du denkst vielleicht, du kannst 30 Meter vor und zehn Meter unter dem höchsten Punkt stoppen und immer noch sagen: Du hast den Berg bestiegen – aber du bist nicht auf dem Gipfel gewesen.“
Deutscher Achttausender-Bezwinger Ralf Dujmovits: „Das ist doch ein Witz!“
„Das ist doch ein Witz“, sagt Dujmovits, der Jurgalskis Arbeit sonst großen Respekt zollt. „Wir können einem Messner, der Meilensteine gelegt hat, nicht sagen, dass er nicht der Erste war, der auf allen 14 Achttausendern war. Jemandem wegen ein paar Metern einen Gipfel aberkennen – das geht nicht.“ Zwischen den Zeilen schwinge mit, dass die Leute bei Gipfelmeldungen geschwindelt hätten, was in den allermeisten Fällen nicht so war. „Auch deshalb lehne ich diese Neuordnung ab“, sagt er.
Dujmovits fand Jurgalskis Idee gut, bis 2019 eine Toleranzzone gelten zu lassen, innerhalb derer ein Gipfel als erreicht gelten sollte. Das wäre aber schwer zu definieren, deshalb hat Jurgalski es verworfen.

Jurgalski stürzt neben Messner und Dujmovits reihenweise Bergsteiger-Ikonen vom Thron. „Das tut mir ja auch in der Seele weh“, sagt er. „Darunter sind lauter Helden, die ich seit Jahrzehnten bewundere.“ Jurgalski sieht ihre Leistung auch in keiner Weise geschmälert. „Wenn die Helden von damals 13 Achttausender-Gipfel gemacht haben, ist das mehr wert als das, was diejenigen mit 14 Gipfeln erreicht haben. Denn die Helden haben neue Routen eröffnet, während die anderen auf Normalrouten aufstiegen.“
Lesen Sie auch: Der Rätsel-Frachter vom Mittelmeer: Wo fährt er denn hin? Und wer kauft den Mais aus der Ukraine?>>
Himalaja-Chronist Eberhard Jurgalski ist selbst kein Bergsteiger
Der Flachländer ist kein Bergsteiger. Sein Großvater hatte seine Faszination entfacht, als er ihm als Kind ein Buch über Erstbesteigungen schenkte. Seit gut 40 Jahren führt er nun Bergtabellen aller Art, etwa geografische und historische Listen über alle Berge über 6650 Meter in Hochasien, oder auch eine Alpenliste mit den prominentesten Bergen – und den „New 14 8K Table“ über die Leute, die alle 14 Achttausender bestiegen haben. Messner und Dujmovits sind da mit 13, Kaltenbrunner mit zwölf Gipfeln verzeichnet.

Lesen Sie auch: Franzose vollendet Weltumsegelung auf 4-Meter-Mini-Segelbötchen >>
Für die acht Achttausender im nepalesischen Himalaja gilt „The Himalayan Database“ als Nonplusultra der Gipfelchronik. Darin steht Messners Annapurna-Espedition unumstritten als Gipfel-Besteigung. Billi Bierling, die die Chronik heute führt, sagt: „Ich schätze Eberhard, seine akribische Arbeit und den Perfektionismus.“ Und weiter: „Klar, man kann heute mit Drohnen und GPS besser bestimmen, wo tatsächlich der Gipfel ist. Aber man soll die Geschichte nicht umschreiben. Es ist nicht gerecht, Menschen, die unglaubliche Pionierarbeit geleistet haben, die Leistungen abzuerkennen.“