Weiße Frau mit Dreadlocks: Ist das kulturelle Aneignung?
Weiße Frau mit Dreadlocks: Ist das kulturelle Aneignung? imago

Ist es ein Sturm im Wasserglas oder steckt mehr hinter den Vorwürfen gegen eine „Cancel Culture“, die den Ausdruck der freien Meinung verbieten wolle? Offensichtlich hat das Thema Konjunktur. Ein kleiner Vorfall in der beschaulichen Schweizer Bundesstadt Bern (133.000 Einwohner) macht gerade Schlagzeilen weit über die Landesgrenzen hinaus.

Ein Konzert der Schweizer Mundart-Band Lauwarm in dem Lokal Brasserie Lorraine am 18. Juli wurde abgebrochen, nachdem sich Gäste beschwert hatten. Sie fühlten sich unwohl, hieß es.

Stein des Anstoßes: Laut den Betreibern des Lokals hatten sich „mehrere Menschen unabhängig voneinander beschwert... Es ging dabei um das Thema Kulturelle Aneignung.“ Gemeint war: Einige der weißen Musiker auf der Bühne trugen Dreadlocks, die mit der jamaikanischen Rastafari-Kultur in Verbindung stehen.

„Kulturelle Aneignung“: akademische Kritik an Kolonialismus voller Widersprüche

Tatsächlich gab es Dreadlocks weit vor der Entstehung der Rastafari-Bewegung in den 1930er-Jahren auf der Karibikinsel Jamaika jedoch in verschiedenen anderen Kulturen, selbst am dänischen Königshof des 16. Jahrhunderts. In der Rastafari-Kultur wurden Dreadlocks als Erkennungszeichen einer spirituell-religiösen Bewegung der Unterschicht symbolisch aufgeladen. Populär wurden sie weltweit vor allem seit den 70er-Jahren durch extrem erfolgreiche Reggae-Musiker wie Bob Marley, Jimmy Cliff und Inner Circle.

Viele Menschen weltweit kopieren seitdem den Look der verfilzten Zöpfe, unbedacht oder auch als Zeichen der Sympathie für die Reggae-Kultur. Dass dies als „kulturelle Aneignung“ aufgefasst werden kann, ist ursprünglich weniger die Sicht von Rastafari, sondern stammt aus einer akademischen Kritik des Kolonialismus, die inzwischen häufig dogmatisch überwiegend in linken Kreisen übernommen wird. Der Begriff „kulturelle Aneignung“ kritisiert die Ausbeutung einer als unterlegen aufgefassten fremden Kultur, steht aber wegen zahlreicher Widersprüche selbst in der Kritik: So wird sogar die Übernahme japanischer Mangakultur als „kulturelle Aneignung“ bezeichnet, müsste dann nicht auch die Übernahme deutscher Oktoberfest- oder Weihnachtsmarkttraditionen in vielerlei Ländern in dieselbe Kategorie fallen?

Dreadlock-Skandal brachte Fridays for Future Cancel-Culture-Vorwürfe ein

Dreadlocks hatten bereits im März bei einer lokalen Veranstaltung der Klimabewegung Fridays for Future für erhitzte Diskussionen gesorgt: Weil die weiße Musikerin Ronja Maltzahn die Filzlocken trug, war sie bei der Veranstaltung in Hannover unerwünscht. Die Veranstalter argumentierten bei ihrer Ausladung mit Antikolonialismus und Antirassismus. In der Folge sahen sich die Organisatoren mit Cancel-Culture-Vorwürfen konfrontiert.

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Aber wofür stehen Dreadlocks tatsächlich, wenn sie nur einer einzigen Kultur vorbehalten sein sollen, obwohl diese Frisur in zahlreichen anderen zuvor existierte? Die jamaikanischen Musiker, die sie weltweit berühmt machten, Peter Tosh, The Wailors, Burning Spear, sie stehen wohl kaum für die jamaikanische Unterschicht, sondern für den weltweiten Erfolg, den der Reggae-Boom ihnen ermöglichte. Mehr als 75 Millionen Tonträger verkaufte Bob Marley zu Lebzeiten, seine Songs werden bis heute gespielt und gesampelt, erwirtschaften weiterhin Millionenbeträge in einer globalisierten Welt. Das Reden von Kolonialismus wirkt da wie aus der Zeit gefallen.