Faszination wollige Rasenmäher: Das sind die Guteschafe der Stadt
Schafe aus dem Havelland pflegen Berlins feudalste Parkwiesen, entsorgen Unkraut und entspannen nervöse Stadtbewohner. Ein Besuch.

Früh am Morgen, noch bevor die ersten Jogger angestrengt ihre Bahnen ziehen und der Berufsverkehr seine Schallglocke über die Stadt wölbt, gehört der Park den Schafen. Im hohen Gras liegend, die runden Rücken in allen Schattierungen von Grau und Braun bis hin zu Schwarz, sehen sie von weitem aus wie eine Ansammlung von Findlingen, jenen Gesteinsbrocken aus der Eiszeit, die von den Gletschern über die Erde geschoben wurden. Wuchtige Eichen wachen über die Tiere. Noch ist das Licht milchig, Dunst steigt über einem dunklen Gewässer auf, am Ufer harrt ein Graureiher auf Beute. Wären da nicht die in Berlin so zahlreich ansässigen Nebelkrähen mit ihrem Geschrei, man könnte sich in einer ländlichen Idylle wähnen, fern vom Zugriff der Metropole. Es gibt kaum etwas Kontemplativeres, als Schafe zu betrachten.
Die Schafe stehen und fressen. Von friedlichem Grasen kann keine Rede sein. Mit einer energischen Kopfbewegung reißen sie die Halme ab, man hört es knacken, bevor die Stängel in ihren scheinbar dauerlächelnden Mäulern verschwinden. Brennnesseln sind ebenso dabei wie Farne, aber sie mögen auch Buschwerk und Eichenblätter, für die sie sich ausdauernd auf die Hinterbeine stellen. Runter damit zur Vorverdauung, wo die Nahrung in drei Vormägen bakteriell vorbereitet wird. Dann wird sie periodisch hervorgewürgt, wiedergekäut und nochmals verdaut – ein Vorgang, der im Gegensatz zum Fressen eher unauffällig vor sich geht.
Zwischendurch ziehen sie gemächlich über die Weide, allein oder in kleinen Gruppen, Mutterschafe mit ihren Lämmern, meistens Zwillinge. Vehement boxen die ihre Mütter in die Euter, bevor sie saugen, der einzige Bock in der Herde mischt sich nicht ein. Das Wintervlies hängt ihm in großen Fetzen vom Leib, mit seinen majestätischen, nach innen gedrehten Hörnern über dem schwarz-weiß gezeichneten Kopf sieht er wie ein mythisches Fabelwesen aus. Hörner, meist grob gerillt, haben sie alle, auch die weiblichen Tiere.
Die Sommergäste aus Schweden
Es sind Guteschafe, eine alte, ursprünglich von der schwedischen Insel Gotland stammende Schafsrasse, „Gotefar“ heißen sie dort. Mit der Bezeichnung „Gehörnte Gotlandschafe“ macht man auch nichts falsch. Schon im dritten Jahr sind sie nun Sommergäste im Garten von Schloss Charlottenburg. Der 1697 vom französischen Gartenkünstler Siméon Godeau und seinen Nachfolgern angelegte Park teilt sich in einen barocken Schmuckgarten mit geometrisch abgezirkelter, prachtvoller Blumenornamentik und einen der Natur nachempfundenen Landschaftsgarten im englischen Stil.
Die weitläufigen Wiesen mit Baumgruppen von Kastanien, Linden, Ahorn, Eichen, Buchen und allein stehenden Bäumen – darunter eine fast 200 Jahre alte Sumpfzypresse – sind das Revier der Schafe. Anfang Mai beziehen sie dort ihre erste Station, meist die Wiese vor dem spätbarock-klassizistischen Teehaus Belvedere. Ist diese abgegrast, geht es weiter zur nächsten Aue; bei 55 Hektar Fläche gibt es Weidegrund genug. Umgezogen wird selbstverständlich zu Fuß, „Umweidung“ heißt die Prozedur in der Terminologie der Tierwirte.
Es ist nicht einfach, sich mit einem Schäfer zu treffen. Die Natur ignoriert vereinbarte Termine. Einmal leidet eines der Mutterschafe nach einer schweren Geburt an einer Gebärmutterentzündung und muss in die Tierklinik gebracht werden. Ein anderes Mal hat sich ein Schaf einen Ast in die Klauen getreten und lahmt. Das Malheur führt zu einer ersten Zufallsbegegnung. Ein Spaziergänger hatte die am Zaun befestigte Notrufnummer gewählt, eine Viertelstunde später traf der Schäfer mit seinem leicht ramponierten Geländewagen ein. Mit dem Schäferhaken und geschickten Griffen befreit er das Tier vom lästigen Fremdkörper.
Hagge: „Ich bin Schafhalter, kein Schäfer“
Immer die Schafe im Blick, nimmt sich Björn Hagge danach Zeit, um über seine Arbeit zu sprechen. Und zwar nur über sie. Allgemeinere Betrachtungen über den Wert der Familie, die Beständigkeit in unruhigen Zeiten, wie sie sein twitternder englischer Kollege James Rebanks vor vier Jahren in seinem Beststeller „Mein Leben als Schäfer“ verbreitete, sind seine Sache nicht. Rebanks versöhnte eine biedermeierliche Mittelschicht mit ihren Widersprüchen: Einerseits will man keine Experimente, andererseits weiß man um die Folgen seiner Lebensweise und Konsumansprüche, ein ewiges Dilemma.
Stellvertretend für sie, die in ihren Büros gefangenen Städter, führt Rebanks ein quasi archaisches Leben auf den Fundamenten einer jahrhundertealten Familientradition und verfügt doch über das Instrumentarium des digitalen Zeitalters. Die Misere eines Berufsstandes, den zu ergreifen heute mangels Rentabilität geradezu aberwitzig erscheint, gerät dabei aus dem Blick. Mit den Schafsprodukten Fleisch, Milch und Wolle allein lässt sich bei extensiver Haltung der Tiere kaum kostendeckend wirtschaften. In den Supermärkten wird fast ausschließlich industriell produzierte Ware, vor allem aus Neuseeland, verkauft.
Björn Hagge, mit olivfarbener Arbeitshose, Basecap und robusten Stiefeln alles andere als eine romantische Erscheinung, stellt eines gleich klar: „Ich bin Schafhalter, kein Schäfer. Schäfer ist ein Ausbildungsberuf.“ Hagge aber ist studierter Agraringenieur und hat viele Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet. Heute gehören ihm 450 Schafe, die etwa 80-köpfige Herde im Schlossgarten ist nur ein Teil davon. Sein Hof liegt im Havelland, nicht weit von der westlichen Stadtgrenze Berlins entfernt.
Seine Schafe leben während des gesamten Jahres im Freien, den Winter über unter anderem auf einem Gelände in der Döberitzer Heide. Schafe aus seinem Bestand beweiden auch das begrünte Flachdach der Max-Schmeling-Halle in Pankow und die Wiesen am Berliner Flughafen Tegel. Zu Hagges Auftraggebern zählen Kommunen ebenso wie die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, die den Schlosspark verwaltet.
Schonung von Insekten und Lieferung von Dünger
Seit drei Jahren engagiert die Stiftung Hagges Schafe zur Pflege der Wiesen. Dabei sind die Tiere weit mehr als lebende Rasenmäher, weil sie anders als die alles niederwalzenden Rasentraktoren Insekten verschonen und den Dünger gleich mitliefern. Die meisten Schafe, erzählt Hagge, seien ausgesprochen wählerische Esser. Die Guteschafe aber nehmen auch, was andere stehen lassen. Kanadische Goldrute etwa, die sich in den Parks massenhaft ausbreitet und von den Guteschafen eingedämmt wird.
Keine Frage, wenn er sagt, „die Schafe sind meine Leidenschaft“, meint er die Guteschafe und nennt ihre Vorzüge im Vergleich zu anderen Schafen, bis hin zum Geschmack ihres Fleisches. Mit etwa neun Monaten werden ein paar der Bocklämmer geschlachtet, sie gehen in den Direktverkauf am Hof, keine Händler, keine Ketten. Das Fleisch schmecke ein wenig wie Wildbret und sei magerer als das auf Ertrag gezüchtete Fleisch der sogenannten Fleischschafe.

Hagges Geschäftsmodell beruht auf der Landschaftspflege. „Ich kann davon leben“, sagt er, vor allem aber lebt er für die Schafe, zwölf Stunden am Tag. Eine Daseinsform, die er in seinen Fünfzigern gewählt hat, nachdem er ein anderes Leben geführt hatte, eines mit Urlaubstagen und festen Arbeitszeiten. In den Neunzigerjahren leitete Hagge auf einem ökologischen Hof in Eutin in Schleswig-Holstein ein Projekt für Langzeitarbeitslose. Dort machte er zum ersten Mal Bekanntschaft mit den Guteschafen. „Die haben mir von Anfang an gefallen, weil sie so unterschiedlich sind“, sagt Hagge.
Nicht nur in ihren Farben und in ihrer Zeichnung ist kein Guteschaf wie das andere. Sie verfügen, so Hagge, auch über „individuelle Verhaltensweisen“. Es gibt Wagemutige und Zaghafte, Rauflustige und Sanftmütige, Neugierige und Scheue. Im vorigen Jahr war ein besonders tollkühnes Schaf dabei. Immer wieder sprang es über den dünnen Maschenzaun aus grün-rotem Kunststoff. Ob wirklich Strom darin fließt, wie die gelben Warnschilder verkünden? Alfred Brehms „Thierleben“ jedenfalls führen die Gotlandschafe ad absurdum. Dort heißt es über das neben der Ziege älteste unter den domestizierten Tieren: „Im übrigen bekundet das Schaf eine geistige Beschränktheit, wie sie bei keinem Haustier vorkommt. Es begreift und lernt nichts, weiß sich deshalb auch allein nicht zu helfen. Nähme es der eigennützige Mensch nicht unter seinen ganz besonderen Schutz, es würde in kürzester Zeit aufhören zu sein. Seine Furchtsamkeit ist lächerlich, seine Feigheit erbärmlich.“
Eine Schafsherde ist kein Streichelzoo
Die Neigung, Tieren derart explizit menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, ist sonst nur bei Hundebesitzern anzutreffen, jedenfalls bei solchen, die nicht mit Hunden zusammenarbeiten. Björn Hagge und seine beiden Border Collies Jamie, ein junger Rüde, und Julie, eine ältere Hündin, sind ein eingespieltes Team. Mit Julie spricht Hagge Englisch, mit Jamie Deutsch. „Und manchmal verstehen sie beides nicht“, sagt Hagge.
Bei der Umweidung an einem schwülen Sommernachmittag zeigen die schwarz-weiß gefleckten Hunde ihr Können. Hagge erteilt seine Befehle in Zimmerlautstärke, die Hunde hören aufs Wort. Lay down, walk on, come by. Aus dem Lauf heraus können sie von einer Sekunde zur anderen katzenartig verharren. Jeden Muskel angespannt, halten sie die Herde in Schach, während Hagge den Zaun an einer Seite öffnet.
Die Tiere umkreisend, treiben die Hunde die Herde zunächst in ein kleineres Geviert. „Engstellung“ nennt sich das, nun sind sie ein Meer wogender Schafsleiber. Sie blöken in allen Tonlagen und Klangfarben – mal heiser, mal schrill –, der Geräuschpegel verrät ihre Aufregung. Julie lässt keinen Blick von den Schafen, während Jamie seinen Chef beim Umstecken des Weidezauns begleitet. Das dauert seine Zeit, aber helfen lässt sich Hagge dabei nicht. Er habe sein System.
Inzwischen sammeln sich immer mehr Spaziergänger auf dem Weg entlang der Schafe. Ein Mann hebt seinen Sohn ins Gehege, eine Frau empört sich darüber, das sei doch der Bereich der Schafe. Eine Schafsherde ist kein Streichelzoo.
Unverständnis einerseits und Beschützerverhalten andererseits treffen am Schafszaun im Schlosspark nicht selten aufeinander. Es gibt – zwar selten, aber dennoch gefährlich – die Fütterer, obwohl Hagge unmissverständlich auf Schildern darauf hingewiesen hat, dass jedes Füttern von außen Koliken bis hin zum Tod verursachen kann. Und es gibt die Kümmerer, die sich Sorgen machen, wenn eine Frisbee-Scheibe auf der Wiese liegt; solche, die stundenlang warten, um die Geburt eines Lamms mitzuerleben.
Das Jüngste in der Herde wurde Ende Mai im Schlossgarten geboren. Ein schwarz-braunes, das Vlies ist noch flauschig. In den frühen Abendstunden strömt es zusammen mit den anderen auf die noch unberührte Wiese. Die Nacht wird es unter den Eichen verbringen. Ohne das Klicken zahlloser Handykameras im Ohr. Denn nachts ist der Park geschlossen.